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Patientenfreundlich: Die Oralen kommen

08.02.07 - Sollten die ersten oralen Mittel tatsächlich ab 2009 zugelassen werden, käme dies einem Meilenstein in der Multiple Sklerose-Behandlung gleich. Vier Wirkstoffe befinden sich zur Zeit in Phase-III-Studien.

Derzeit haben sämtliche Standardtherapien gegen MS, ob Interferon oder Glatiramerazetat, einen recht unangenehmen Haken: Die Mittel müssen injiziert werden. Neben der mitunter täglichen Überwindung, sich selbst zu spritzen, führt das lästige Verfahren gelegentlich zu weiteren Nebenwirkungen: Rötungen, Juckreiz und Verhärtungen an der Einstichstelle. Besonders reisefreundlich sind die Mittel und Utensilien zudem nicht.

Schlucken statt injizieren

Einer kleinen Revolution kommt es daher gleich, wenn die ersten oralen Mittel gegen die MS zugelassen werden. Und dies steht nach Meinung von Experten in naher Zukunft bevor, wie die Pharmazeutische Zeitung (Ausgabe 5 / 2007) berichtet. Derzeit befinden sich vier ernst zu nehmende Konkurrenten in Phase-III-Studien, dem Stadium eines zu prüfenden Mittels also, nach dessen überzeugendem Ausgang ein Zulassungsantrag Aussicht auf Erfolg hat. - Fingolimod, Fampridin, Cladribin und Teriflunomid heißen die vier neuen oral zu gebenden Substanzen. In ihrer Wirkungsweise unterscheiden sie sich von den bisher eingesetzten Mitteln sowie untereinander.

Fingolimod

Fingolimod (FTY720) ist der synthetische Bruder zu Myriocin, einem Stoffwechselprodukt des Isaria sinclairii. Dieser Pilz wird bereits von der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) eingesetzt. In der synthetischen Form wirkt Fingolimod allerdings stärker bei gleichzeitig verringerter Giftigkeit. Als Rezeptor-Agonist bindet Fingolimod an S1P-Rezeptoren auf den T-Lymphozyten und hindert diese daran, aus den Lymphknoten in die Blutbahn und das zentrale Nervensystem zu wandern, wo sie die Zerstörung der neuronalen Myelinscheiden veranlassen.

Halbierte Schubrate

Ergebnisse der Phase-II-Studie: 255 Patienten mit schubförmig verlaufender MS, erhielten 1,25 oder 5 mg Fingolimod oder Placebo für sechs Monate. Die durchschnittliche Zahl der Läsionen war bei Patienten, die mit 1,25 (1 Läsion) beziehungsweise 5 mg (3 Läsionen) Fingolimod behandelt wurden, signifikant niedriger als bei den Patienten der Placebogruppe (5 Läsionen). Die jährliche Schubrate betrug unter Placebo 0,77 im Vergleich zu 0,35 unter der 1,25-mg-Dosis und 0,36 unter der 5-mg-Dosis.

227 Patienten beendeten die 18-monatige weiterhin verblindete Verlängerungsstudie. Der Placebo-Arm erhielt nun ebenfalls Fingolimod. Später erhielten alle Patienten die niedrigere (und in Phase III wirksamere) Fingolimod-Dosis. Die jährliche Schubrate für die Gesamtdauer der Studie sank auf 0,20 bei Patienten, die von Beginn an Fingolimod erhalten hatten, gegenüber auf 0,33 bei Patienten, die zuerst 6 Monate lang Placebo und dann Fingolimod erhalten hatten. Nach 24 Monaten zeigte das MRT keine neuen Läsionen bei 84 Prozent der Fingolimod- und 85 Prozent der Placebo-Fingolimod-Gruppe.

Erhöhte Infektionsgefahr?

Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählten Nasen- und Rachenentzündung, Influenza, Kurzatmigkeit, Kopfschmerzen, Durchfall und Übelkeit. Die Alaninaminotransferase-Werte waren erhöht (10 bis 12 versus 1 Prozent). Eine anfängliche Verringerung der Herzfrequenz und des forcierten Exspirationsvolumen in der ersten Sekunde und anfängliche Blutdruckerhöhungen traten auf.

Experten weisen auf das möglicherweise erhöhte Infektionsrisiko hin. Parallelen bestehen zwischen Fingolimod und Natalizumab (Tysabri®), das ebenfalls in die Migration der T-Lymphozyten eingreift und bei dem seltene Fälle von progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie (PLM) auftraten. Ob Fingolimod ein ähnliches Risiko in sich birgt, sollte untersucht werden, genauso wie das eventuell erhöhte Infektionsrisiko. Fingolimod unterbindet jedoch, anders als Tysabri, die T-Lymphozytenwanderung nicht völlig.

Zulassung 2009?

Wegen der guten Ergebnisse veranlasste Novartis im vergangenen Jahr drei Phase-III-Studien. Es wird nur noch die 1,25-mg-Dosis der Phase-II-Studie und eine noch niedrigere Dosis getestet. Im Januar startete die Rekrutierung für die FREEDOMS-Studie in Europa, Kanada und Australien. 1250 MS-Patienten mit schubweise-remittierendem Verlauf sollen über zwei Jahre hinweg mit Fingolimod oder Placebo behandelt werden.

Parallel läuft bereist seit Juni 2006 eine Studie in den USA mit 960 Frauen. Die TRANSFORMS genannte Vergleichsstudie testet die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Fingolimod gegenüber Interferon-beta 1a. In die zwölfmonatigen, multinationalen Studie werden 1275 Patienten mit schubförmiger MS eingeschlossen, die einmal täglich Fingolimod oral oder einmal wöchentlich 30 µg Interferon-beta 1a injiziert erhalten. Im positiven Fall wäre eine Zulassung von Fingolimod bereits 2009 möglich.

 
 
fingolimod auf amsel.de
 
  

Fampridin

Fampridin oder 4-Aminopyridin ist kein neuer Wirkstoff. Klinische Tests in den 1990er-Jahren waren mangels Wirksamkeit eingestellt worden. Die US-Firma Acorda testet jetzt eine Variante mit verzögerter Freisetzung in klinischen Studien.
Der neuronale Kaliumkanalhemmer verstärkt die elektrische Signalleitung in demyelinisierten Nervenbahnen, indem er die aus den axonalen Kaliumkanälen austretenden Kaliumionen unterbindet, und soll so MS-Symptomatik verbessern.

Verbessertes Gehen

Über dreieinhalb Monate erhielten 301 MS-Patienten zwischen 18 und 70 Jahren zusätzlich zu ihrer Standardmedikation Fampridin oder Placebo. Die doppelblinde, 3:1-randomisierte Phase-III-Studie schloss Patienten mit allen MS-Verläufen ein, sofern ihre Gehfähigkeit eingeschränkt war. Endpunkt war die verbesserte Gehfähigkeit.

Signifikant mehr Patienten der Fampridingruppe konnten ihre Gehgeschwindigkeit verbessern, verglichen mit der Kontrollgruppe (34,8 Prozent gegenüber 8,3 Prozent). Dieser Effekt, bei dem die Geschwindigkeit auf 25 Fuß (circa 7,7 m) gemessen wird, hielt über die ganze Studiendauer an. Im Durchschnitt erhöhte sich die Gehgeschwindigkeit um ein Viertel verglichen mit 4,7 Prozent unter Placebo. Auch die Ergebnisse des Patientenfragebogens, zeigten eine signifikante Verbesserung. Die Muskelstärke in den Beinen besserte sich ebenfalls signifikant.

Je nach Dosis wurde unter Fampridin ein erhöhtes Risiko für epileptische Anfälle festgestellt.Weitere Nebenwirkungen waren Benommenheit, Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Übelkeit, Rückenschmerzen und Gleichgewichtsstörungen. Die Firma Acorda plant nun eine zweite Phase-III-Studie.

Cladribin

Auch Cladribin (2-Chlorodeoxyadenosin) ist kein neues Mittel. Das Purin-Nukleosid-Analogon ist bereits als parenterale Form bereits für die Behandlung von Haarzell-Leukämie zugelassen. Es blockiert die DNA-Synthese und -Reparatur von sich teilenden und ruhenden Lymphozyten und Monozyten. In den T-Lymphozyten, die bei der Pathogenese der MS eine Rolle spielen, wird damit der programmierte Zelltod ausgelöst.

Im April 2005 haben die Firmen Serono und Ivax mit der Patientenrekrutierung für die Phase-III-Studie CLARITY begonnen. In dieser randomisierten Doppelblindstudie werden 1290 Patienten mit schubförmiger MS im Alter von 18 bis 65 Jahren über 96 Wochen behandelt. Dabei erhalten die Patienten 10 mg Cladribin oder Placebo oral an fünf aufeinander folgenden Tagen zwei bis viermal pro Jahr. Studienendpunkte sind die Reduktion der Schubrate sowie der Erkrankungsprogression anhand der EDSS-Skala, die Verminderung der Läsionen im MRT und die Verträglichkeit. Mit Studienergebnissen ist 2008 zu rechnen. Vorangegangene Studien mit parenteralem Cladribin haben einen positiven Effekt auf die Anzahl der entzündlichen Herde im MRT gezeigt. Eine Studie mit 26 Patienten wies für orales Cladribin ein günstiges Pharmakokinetik- und Sicherheitsprofil auf.

Teriflunomid

Leflunomid (Arava®), die Muttersubstanz von Teriflunomid, wird bereits in der Arzneimitteltherapie eingesetzt. Teriflunomid ist ein aktiver Metabolit des Rheumamittels Leflunomid, das immunomodulatorisch wirkt. Der genaue Wirkmechanismus ist unbekannt. In experimentellen Studien konnte jedoch gezeigt werden, dass der Inhibitor der Dihydroorotatdehydrogenase unter anderem die Pyrimidinsynthese hemmt und die T-Lymphozytenaktivierung unterbindet.

Wenig Nebenwirkungen

In einer randomisierten doppelblinden Phase-II-Studie mit 179 Patienten zwischen 18 und 65 Jahren mit schubförmiger oder sekundär progressiver MS über 36 Wochen (einmal täglich 7 oder 14 mg Teriflunomid oder Placebo), konnte die Wirksamkeit bei MS nachgewiesen werden. Der primäre Studienendpunkt war die Gesamtzahl der aktiven Läsionen im MRT. Auch die Schubfrequenz und das Fortschreiten der Behinderung nach EDSS wurde untersucht. Beide Dosierungen zeigten eine signifikant geringere Anzahl von Läsionen im Vergleich zu Placebo. Während die Patienten unter Placebo im Schnitt 0,5 Läsionen aufwiesen, hatten diejenigen unter der niedrigeren Dosis 0,2 und in der höheren 0,3 Läsionen. Auch die Schubfrequenz wurde gesenkt. Die höhere Dosis bewirkte zudem einen verzögerten Behinderungsfortschritt. Teriflunomid wurde gut vertragen. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Kopfschmerzen und Infektionen der oberen Atemwege.

147 der Patienten der Phase-II-Studie nahmen an einer 144-wöchigen Verlängerungsstudie teil. Die Patienten der Placebogruppe erhielten nun ebenfalls 7 oder 14 mg Verum pro Tag. Am Ende der Studie war die jährliche Schubrate mit 0,4 pro Jahr in allen Behandlungsgruppen gleich. Bei Patienten, die nach Placebo 7 mg Teriflunomid erhielten, verringerten sich die Läsionen im MRT um 65 Prozent, bei denen, die stattdessen 14 mg erhielten um 85 Prozent.

Teriflunomid wurde gut vertragen. Die Zahl der Patienten, die die Studie vorzeitig beendeten, lag unter 10 Prozent. Aufgrund der bei Leflunomid (der Muttersubstanz, s. oben) beobachteten Nebenwirkungen muss allerdings davon ausgegangen werden, dass in Studien mit einer größeren Patientenzahl ähnliche hämatotoxische und hepatotoxische unerwünschte Wirkungen auftreten können, sowie ein erhöhtes Risiko für Infektionen.

Sanofi-Aventis hat 2004 eine Phase-III-Studie begonnen. In die Zwei-Jahres-Studie sollen 1080 Patienten, deren MS in Schüben verläuft, eingeschlossen werden. Studienendpunkte sind die Schubfrequenz, die Anzahl der Läsionen im MRT, das Fortschreiten der Behinderung gemäß der EDSS-Skala und die Verträglichkeit von Teriflunomid. Mit Ergebnissen kann vermutlich 2008 gerechnet werden.

Durchbruch am Ende der Dekade?

Während der Kaliumkanalblocker Fampridin nur zur symptomatischen Behandlung eingesetzt werden kann, greifen die drei immunmodulatorisch wirkenden Substanzen wie die bislang eingesetzten Therapeutika in den Krankheitsverlauf der MS ein und verzögern die Krankheitsprogression. Die herkömmlichen Therapeutika könnten dann durch patientenfreundlichere oral wirksame Arzneistoffe abgelöst werden. Je nach Ergebnis der Studien ist zum Ende dieser Dekade mit Zulassungen zur MS-Therapie zu rechnen.

Quelle: Pharmazeutische Zeitung online, Ausg. 5/2007

Redaktion: AMSEL e.V., 09.02.2007