(De-) Eskalation bei MS

Im Expertenchat vom 02.05.06 empfiehlt Prof. Heinz Wiendl die Immunmodulation, "gerade auch dann, wenn die Erkrankung momentan stabilisiert erscheint."

 

Moderator Patricia Fleischmann: Herzlich willkommen zum AMSEL-Chat, liebe Chatter und Prof. Heinz Wiendl - es kann losgehen!

Anna W.: Sehr geehrter Prof. Dr. Wiendl, ich bin 43 Jahre und habe von 2/2004 - 11/2005 Mitoxantron bei sekund.progred. MS bekommen. Vorab hatte ich schon Therapien mit Rebif 22 und Betaferon. Trotz Interferone wurde u.a. Laufen, die Kernspinbilder immer schlechter. Seit der Chemotherapie sind meine Werte soweit stabil. Ich kann auf gerader Strecke ca 100m ohne Pause gehen, abgesehen davon dass es immer schlechter geht bzw. meine Erschöpfung dann schon sehr schnell erreicht wird. Ich habe 62 mg/m2 Körperoberfl insgesamt. Die letzten 4 Behandlungen waren schon auf 5 mg/m2 Körperob. reduziert und davor von 12mg/m2 immer etwas weniger wegen Blutwerte. In der MS-Ambulanz Würzbg. hat man mir geraten die Therapie abzusetzen u. evtl. an einer Studie zur Deeskalation mit Rebif teil zunehmen, welches ich ablehnte. Seit der Infusion im November bin ich jetzt ohne Behandlung, abgesehen das was noch in meinem Körper davon ist. Man sagte mir in WÜ, daß ich noch ca 6 Monate Schutz hätte. Mein Neurologe meint der Schutz wurde oft sehr lange dauern, bzw. es sei im Blut vielleicht jetzt alles krankmachende für MS abgetötet und ich hätte jetzt ziemlich Stillstand, soll aber zur Kontrolle. Ich selbst war auch froh, daß ich nicht mehr mit der Interferontherapie wieder anfangen sollte. Ist das alles evtl leichtsinnig bzw. was sagen die Erfahrungssberichte von einzelnen die den langjährigen Empfehlungen zurück zur Basistherapie gefolgt sind? Ferner ist auch meine kognitive Belastung sehr runtergesetzt. Ich brauche auch viel "Ruhe für meinen Kopf." Trotzdem bin ich der Meinung, daß seit der Stabilisierung durch Mitoxantron auch dieses ein klein wenig sich gebessert hat

Prof. Heinz Wiendl: Hallo zusammen, bin auch eingeloggt. Liebe Anna, grundsätzlich sagen wir Therapeuten ja, dass die MS "nicht schläft". Man kann - so stellt man sich das vor - durch eine Chemotherapie für längere Zeit STillstand herbeiführen, am grundsätzlichen Problem dass es sich bei der MS um eine Fehlgeleitete Autoimmunreaktion handelt ändert das anscheinend nichts. Da man nicht vorhersagen kann wann (und bei manchen Patienten ob überhaupt) es wieder zu Erkrankungsaktivität kommt, halten wir die sogenannte Deeskalation für eine sehr sinnvolle Massnahme. Anders gesagt, ich würde eine Behandlung mit einem Immunmodulator empfehlen, auch wenn - und vielleicht auch gerade dann - die Erkrankung momentan stabilisiert erscheint.

Michaela: Guten Tag, ich habe eine sekundär-progrediente Form der MS und bekomme Mitoxantron. Gibt es vielleicht noch eine andere Therapie oder kann ich noch mehr tun, um das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen? Würde mich über eine Antwort freuen. Vielen Dank

Prof. Heinz Wiendl: Hallo Michaela! Mitoxantron ist derzeit für aktive sekundär-progrediente Formen der MS das gebräuchlichste Medikament und auch das einzig zugelassene aus der Gruppe der Chemotherapeutika. ich bin nicht sicher ob ich verstehe was "zusätzlich" meint. Manchmal gibt man Mitoxantron zusammen mit einem Cortisonstoss, um die Wirksamkeit zu erhöhen (macht man dann alle 3 Monate). Als echte Kombinationstherapie z.B. mit einem anderen Therapeutika gibt man Mitoxantron nicht. Dazu gibt es zwar einige vorläufige Beobachtungen (z.B. ob man mit gleichzeitiger Gabe von Interferon und Mitoxantron die Dosis spart und die Wirksamkeit erhöht), bislang haben sich aber in den Leitlinien der Therapieempfehlungen solche Massnahmen nicht durchgesetzt (weil man zu wenig über die Gefahren und die echte Wirksamkeit weiss).

--Michaela: Ich habe von 4-Aminopyridin gehört, weiß aber nicht, was das genau ist und ob es für mich (chronisch-progrediente Form) in Frage käme.

Prof. Heinz Wiendl: 4-AP (Abkürzung von Aminopyridin) wird von manchen MS Therapeuten gegeben und zwar als Form der symptomatischen Therapie. Es beeinflusst nicht die Erkrankung und den Verlauf als solchen, jedoch vermag es bei einigen Patienten Probleme der Hitzeempfindlichkeit oder von kurzfristigen Schwächen zu lindern. Die Substanz gibt es nicht als Medikament, sondern muss von einem Apotheker angemischt werden. Da es die Empfänglichkeit für Krampfanfälle erhöht ist man in Deutschland - im Gegensatz zu anderen LÄndern wie z.B. USA - eher vorsichtig damit.

conqckr: was gibt es für neue Medikamente und Therapien für MS

Prof. Heinz Wiendl: Puh, komme langsam ins Schwitzen. Es laufen momentan weltweit mehr als 160 STudien zur MS, es würde natürlcih wirklich den Rahmen sprengen auch nur die wichtigsten zu nennen. Sicherlich erwähnt werden muss allerdings der Antikörper Natalizumab, der seit letzter Woche für Europa die Zulassungsempfehlung bekommen hat. Er verhindert die Wanderung von Leukozyten über die Blut-Hirn-Schranke in das Zentrale NErvensystem und beeinflusst damit sehr effektiv die Schubrate und das Voranschreiten der Behinderung bei MS Patienten. Es ist zu erwarten, dass die Substanz im Frühsommer verfügbar wird, und man kann jetzt schon sagen, dass es ein Medikament sein wird, welches vor allem für hochaktive Formen der MS eingesetzt werden wird.

Stan: Sehr geehrter Herr Prof.Wiendl, habe seit 1995 MS. Nehme seit dem Fortecortin in Tablettenform bei Bedarf. Interferone etc. zeigten keine Wirkung. Gibt es Alternativen zu Mitoxantron? Bin noch lauffähig für ca. 45 Minuten am Stück. Wann ist mit einer Zulassung von MBP 8298 der Fa. BioMS aus Kanada zurechnen? Wann und wo finden Studien Phase III in Deutschland statt? Vielen Dank für die freundliche Beantwortung meiner Fragen.

Prof. Heinz Wiendl: Hallo Stan: also in aller gebotenen Kürze. Fortecortin in Tablettenform ist absolut obsolet. Man schädigt damit mehr als man gutes für den Erkrankungsverlauf tut (was anders ist als bei den intravenös gegebenen Cortisonpulsen)!. Alternativen zu Mitoxantron: wie gerade gesagt, ist Tysabri (der Antikörper Natalizumab) letzte Woche zugelassen worden, damit ist die Substanz eine echte Alternative für Mitoxantron (wobei sich die Anwendungsgebiete und Patienten, die sich dafür qualifizieren, nicht komplett überschneiden). MBP8298 befindet sich momentan in USA in einer Phase II Studie. Über deren Ergebnisse ist noch nicht zu viel bekannt, erst nachdem diese komplett ausgewertet sind, wird über eine Phase III Studie entschieden. Es laufen momentan in Deutschland eine Reihe von Phase III Studien. Die meisten der Studien schliessen Patienten mit schubförmiger MS ein. Dazu gehören z.B. Cladribin (orale Substanz), Laquinimod (orale Substanz), FTY720 (orale Substanz).

conqckr: Ich habe eine Codmann Spastik Pumpe und kann seitdem kein Mitox mehr nehmen , sagen die Ärzte, was gibt es für Therapien und Alternativen für mich ????

Prof. Heinz Wiendl: Das kann ich so aus der Ferne nicht gut beantworten. Es gibt Patienten, die auch bei einer Spastik-Pumpe noch zusätzlich Therapie bekommen (z.B. Mitoxantron, Corticosteroidpulse). Dazu müsste ich aber das Gesamtbild und den Erkrankungsverlauf besser kennen.

Moderator Patricia Fleischmann: @ alle: Sie dürfen sich gerne auch untereinander austauschen über Ihre Erfahrungen mit Eskalationstherapie, über die MS im Allgemeinen, über das Leben an sich... Einfach unter "allgemeinen Beitrag" schreibn & abschicken.

Karin: Hallo H.Prof. Wiendl Im Nov.2005 habe ich die Höchstmenge an Mitoxantron 96mg erreicht und seitdem eine Cortison-Pulsth. 3x1000 Urbason erhalten, die ich nicht besonders gut vertragen habe. Nun wurde mir Copaxone trotz SPMS mit einem verm. aufgesetzen Schub empfohlen. Leider habe ich nun eine zunehmende Spastik in den Beinen. Was halten Sie von Copaxolne nach Mitox trotz SPMS ? LG Karin

Prof. Heinz Wiendl: Hallo Karin: die Deeskalation auf einen Immunmodulator, sei es Interferon oder Copaxone, nach Mitoxantron, ist eine sinnvolle Therapiemassnahme. Allerdings muss man dazu einiges beachten. Zum einen gibt es momentan keine verfügbare kontrollierte Beobachtung zu diesem Vorgehen und dementsprechend auch keine klare Ansicht darüber ob es besser ist nach Mitoxantron Copaxone oder Interferone zu nehmen. Das hängt eben dann sicherlich auch von der Vorgeschichte (vor Mitoxantron) ab. Ich bin allerdings der Meinung, dass man sich an die grundsätzlichen Indikationsgebiete halten sollte und dies in seine Abwägungen als Therapeut mit einbeziehen muss. Und in der Tat kann man annehmen, dass Copaxone bei SPMS schlechter wirkt als (zumindest einige der) Interferone. Letztlich weiss aber momentan niemand, ob das mit der Vorgeschichte einer vorherigen Mitoxantrontherapie nicht anders wäre, man könnte ja auch annehmen, dass dann das Immunsystem wieder empfänglich für die Wirkung des Copaxone bzw. der Interferone ist. Es bleibt von daher momentan eine "individuelle" Entscheidung, allerdings würde ich selbst Copaxone bei klarer SPMS ohne Schübe nicht empfehlen.


Allgemein - auto: hallo miteinander
quickbea: Ich komme aus Wuppertal und ich Würde Sie gerne besuchen, damit Sie mein Krankheitsbild kennenlernen , ich würde auch für eine Therapie in die USA fliegen, wenn das die letzte Möglichkeit wäre, aber meine Familie hat mir abgeraten. Wie lange dauert es bis ich ein Termin bei Ihnen bekomme ?

Prof. Heinz Wiendl: Die Wartezeiten in der neuroimmunologischen Sprechstunde unter meiner Supervision liegen zwischen 1-3 Monaten, in Notfällen oder Einzelfällen können über telephonische Rücksprache ggf. auch Sondervereinbarungen getroffen werden.


Allgemein - quickbea: hallo an alle im Chat aus Wuppertal

Allgemein - quickbea: kommt jemand aus NRW ?

Allgemein - auto: nein bea, aus bayern
Karl: Herr Professor, können Sie mir sagen, woran man sicher erkennt, ob man einer progredienten Form der Ms leidet?

Prof. Heinz Wiendl: Hallo Karl: sicher erkennen ist immer schwierig über Internet. Aber man geht davon aus, dass es sich um eine progrediente Form handelt, wenn abhängig und unabhängig von Schüben es zu einer mehr oder weniger kontinuierlichen schleichenden Verschlechterung der neurologischen Symptome bzw. Probleme kommt. Die meisten der progredienten Formen gehen ohne Schübe einher (bzw. die Frequenz der Schübe nimmt ab, aber die schleichende Verschlechterung nimmt trotzdem zu).


Allgemein - quickbea: hallo bea gute erfahrungen in bayern mit den Ärzten gemacht es soll ja gute kliniken in bayern geben ist das so?
Regina: Hallo Herr Prof. Wiendl, Ihre neuroimmunologische Sprechstunde hat mir als Mitoxantron empfohlen, da trotz Betaferon die Entzündungsaktivität (im Kernspin deutlich) vorhanden ist. Die Therapie fängt nächste Woche an. Ist es sinnvoll nach der Chemo auf Rebif44 umzusteigen, da die Einheiten höher sind ?

Prof. Heinz Wiendl: Hallo Regina: kann man so pauschal nicht sagen. Grundsätzlich würde ich es davon abhängig machen, wie gut die Mitoxantron-Therapie anschlägt und wie sich die Entzündungsaktivität im Zeitgang verhält. Es gibt sicherlich eine Reihe von guten Argumenten bei sogenannten "hochaktiven" Patienten nach einer Mitoxantrontherapie auch mit einem möglichst hochdosierten Interferonpräparat wieder einzusteigen. Falls es klar ist, dass man ein sogenannter Therapieversager der Interferone ist (und das dazu führte auf Mitoxantron umzusteigen), dann würde einem ja auch die Dosis danach nichts helfen, so dass man ein anderes Medikament (Copaxone) vorziehen würde.

quickbea: Ich werde mich bei Ihnen Melden.Vielen Dank im voraus.

Prof. Heinz Wiendl: Alles klar.


Allgemein - Regina: nein, bin aus Ba-Wü
Karin: Vielen Dank für Ihre Antwort, aber was gibt es denn noch für Therapien (Interferone habe ich auch nicht vertragen) LG Karin

Prof. Heinz Wiendl: Falls Interferone UND Glatirameracetat nicht in Frage kommen (bzw. nicht vertragen werden), schlagen wir häufig vor, wiederholte Cortisonpulse zu machen (so ca. alle 3 Monate). Manche Patienten kommen auch für Azathioprin (Imurek) in Frage, wobei das Risiko etwas erhöht ist, wenn man nach einem Immunsuppressivum (Mitoxantron) noch ein zweites Immunsuppressivum (Azathioprin) über längere Zeit einnimmt.

Regina: Das Betaferon an sich hat schon geholfen, ich war dann "offensichtlich" schubfrei. Vorher unter Copaxoen jagte ein Schub den anderen. Unter Betaferon war ich der Meinung es geht mir gut. Bis die Bilder vom Kernspin was anderes zeigten. Ist Betaferon bei mir ein Therapieversager ? Wann nach der chemo kann man sagen, daß sie angeschlagen hat ?

Prof. Heinz Wiendl: Bei der Chemo kann man das frühestens nach etwa 6 Monaten sagen (ist meines Erachtens auch der Termin bei dem man eine Vergleichskernspintomographie machen sollte). Patienten denen es gut geht, bei denen aber die Kernspintomographie sehr viel Aktivität zeigt kann man nicht grundsätzlich als Therapieversager bezeichnen. Es ist eher so, dass die Erkrankung vielleicht so aktiv war/ist, dass mit einer recht milden Immunmodulation durch die Interferone zwar ein teilweiser Effekt erreicht wurde (Schubfreiheit), aber insgesamt die Entzündung doch weiter abläuft. Gerade bei diesen Patienten ist es denkbar, dass nach einer erfolgten (und hoffentlich erfolgreichen) Chemotherapie das Immunsystem wieder empfänglich für die Therapie mit Interferonen ist (und dann klinische Stabilität mit Stabilität in der Kernspintomographie parallel läuft).


Allgemein - Tina: Nabend zusammen
Regina: Das lässt hoffen. Vielen Dank !

Prof. Heinz Wiendl:

auto: herr prof., ich nehme seit 11 jahren imurek ein, die erstdiagnose lautete auf immunvaskulitis, erst bei meinem 3. schub 2004, hieß es auf einmal verdacht auf ms. wie ist die weitere vorgehensweise, wenn imurek mal nicht mehr hilft?

Prof. Heinz Wiendl: Zur diagostischen Einordnung kann ich natürlich nichts sagen. Wenn Imurek nicht mehr hilft würde man - so denn die Diagnose MS steht - einen Immunmodulator vorschlagen (Interferone, ggf. Glatirameracetat). Das hängt davon ab wie aktiv die Erkrankung ist bzw. wie viele neurologische Defizite bestehen. Falls die Erkrankung sehr aktiv ist, wäre eine Eskalation mit Mitoxantron zu erwägen. Insgesamt sollte auch angemerkt werden, dass man nach mehr als 10 Jahren mit Imurek generell über alternative Behandlungen nachdenken sollte, da bei Imurek dann das Risiko steigt, eine durch Imurek verursachte Blutkrebserkrankung zu verursachen.

Moderator Patricia Fleischmann: So langsam läute ich mal die letzte Fragerunde ein. 10 Minuten haben wir noch, dann schließt der Chat bis zum 16. Mai, 19 Uhr. Thema dann: "Fatigue" mit Dr. Peter Flachenecker aus dem Quellenhof in Bad Wildbad.


Allgemein - conqckr: ich wünsche allen noch einen schönen Abend und vielen Dank an Prof.Heinz Wiendl
Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, verehrter Prof. Wiendl, im Namen der AMSEL sage ich Danke! für Ihre Beiträge und wünsche noch einen schönen Abend. Bis zum nächsten Mal!

Anna_W: Hallo, hier ist Anna noch einmal. Sie sagen bei Regina dass Patienten denen es unter Interferon gut geht aber trotzdem Kernspinaktivität zeigen nicht grundsätzliche Therapieversagen ist. Mir ging es mit Interferonen nicht gerade gut. Nebenwirkungen Schwäche, Schmerzen und die stetige Verschlechterung die ich verspürte. Eine Sehrnerventz. hatte ich in dieser Zeit bis jetzt nicht mehr aber viele andere und neue Symptome kamen hinzu. Ich habe eine innere Abneigung gegen diese Medikamente. Soll ich einfach einmal beobachten u. dann evt. Kernspin, Kortison. Kann man es verantworten.

Patricia Fleischmann: Hallo Anna_W, Prof. Wiendl ist bereits offline, ich werde ihm die Frage per eMail hinterherschicken, mit der Bitte um Antwort. Die könenn Sie dann hier im Protokoll nachlesen, schätzungsweise ab Anfang nächster Woche.

Redaktion: AMSEL e.V., 02.05.2006