Spenden und Helfen

Mit MS mitten im Leben – Freiheit in fernen Ländern: Christine

Wie geht es uns mit unserer MS in verschiedenen Lebensphasen? Dieser Frage ging das Magazin together 2020 nach. Zwischen den Jahren veröffentlicht AMSEL die Reihe auf amsel.de. Hier #1 am Beispiel von Christine: Jung und MS - Was bedeutet es, in jungen Jahren eine schwerwiegende Diagnose wie MS zu bekommen? Aus der Sorglosigkeit der Kindheit und Jugend katapultiert zu werden in eine Welt der Krankheit, Kliniken, Reha-Zentren, Medikationen, körperlichen wie kognitiven Einschränkungen? Wie geht man damit um, dass man nicht weiß, wie sich die MS entwickelt? Wie mit teils beängstigenden Symptomen, von denen man nicht sagen kann, ob sie bleiben, ob und welche neu dazukommen?

Multiple Sklerose in verschiedenen Lebensphasen: together 2020

2020 beschäftigte sich das AMSEL-Mitgliedermagazin together mit Multipler Sklerose in unterschiedlichen Lebensphasen. Insgesamt erschienen oder erscheinen noch:

Dazu erschien jeweils ein Porträt eines Menschen mit Multipler Sklerose von Christine, Roland und Waltraud. Die Multiple Sklerose verläuft individuell völlig unterschiedlich. Daher können diese Porträts auch nicht repräsentativ für die jeweilige Lebensphase stehen, sondern geben Einblick in ganz persönlche Biografien.

Christine hat die Diagnose mit 26 Jahren bekommen. Ihre jugendlich-frische Sorglosigkeit lässt sie sich von der Krankheit nicht nehmen. Sie hat die MS auf die „Überholspur“ des Lebens geschickt, die gebürtige Badenerin realisiert ihre Lebensträume umso bewusster und zielstrebiger.

Aus Bühl in die weite Welt

Geboren und aufgewachsen ist Christine im badischen Bühl zusammen mit vier Geschwistern, drei Schwestern und einem Bruder. Nach ihrer Studienzeit in Köln, wo sie an der Technischen Hochschule International Business mit Schwerpunkt auf Volks- und Betriebswirtschaft studierte, hat die heute 30jährige ihr Berufsleben gestartet. Im November 2019 hat sie ihr Examen bestanden. Daneben jobbte sie im Finanz- und Rechnungswesen eines international aufgestellten Automobilzulieferers. Verkehrssprache in Studium und Job war Englisch, und das liebt die junge Frau ganz besonders: je internationaler, desto besser.

Wie sie auf den Geschmack gekommen ist? Nach ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau zog es sie 2013 erstmals so richtig in die Ferne: Nicht in klassische Urlaubsländer wie Spanien oder Tunesien, sondern nach Australien. Über ein Internetportal bekam Christine in Sydney einen Job als Au-pair in einer Akademikerfamilie mit drei Kindern, eigenem Auto zum Chauffieren der Kids und Strand vor der Haustür inklusive. Das australische Lebensgefühl „alles cool und entspannt, bloß keine Hektik“ hat sie sofort begeistert. Sieben Monate lebte und arbeitete sie bei der Familie, die sie in ihre Studienwahl sehr bestärkte. Danach reiste sie allein durch Malaysia und Bali. Einen ersten Vorboten der MS sieht Christine rückblickend in einer Sehstörung, derentwegen sie in Sydney kurzzeitig in einer Klinik war, die jedoch wieder verschwand, wie sie gekommen war. Und die sie deshalb nicht weiter beachtete.

Zurück in Deutschland nahm sie im Oktober 2015 in Köln ihr Studium auf. Die Mentalität der Rheinländer mit ihrer Leichtigkeit und Lebensfreude lag der Badenerin sehr. Sie engagierte sich in der Fachschaft ihres Studiengangs, früher als Fußball- und Tanztrainerin einer süddeutschen Tanzgarde. Studium, Job, Ehrenamt, Sport – der Alltag von „Chrissie“, wie ihre Familie sie nennt, war schon immer eng getaktet. 2017 kam die MS und ihre Bewältigung hinzu.

Sprachlosigkeit und Lähmung

Mitten in der Klausuren- und Prüfungsphase im 4. Semester verlor Christine plötzlich ihre Sprache, das legte sich zum Glück bald wieder. Im Mai 2017 stellte sich eine rechtsseitige Lähmung von Gesicht und Arm ein. Die Studentin kam mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus. CT, MRT und Liquordiagnostik brachten innerhalb weniger Tage die Diagnose MS. Sie konnte ihr Handy nicht bedienen, eine Katastrophe! Abgeschnitten von der Außenwelt! Aber ihre Freundinnen, ihre „Mädels“, wie Christine sie liebevoll nennt, kamen ständig zu Besuch und halfen ihr über den ersten Schock, die erste Panik hinweg.

Christine hat das Glück, dass sie einen relativ milden Verlauf einer schubförmigen MS hat und mit einer Basistherapie sehr gut eingestellt ist. Seit ihrem ersten Schub ist sie schubfrei geblieben. Dazu hat, da ist sie sich sicher, ihre überwiegend vegane Ernährung beigetragen. Nach Grundstudium und Reha legte sie ein Auslandssemester ein und lebte acht Monate in China – ganz ohne Medikamente, nur mit Vitamin D. Der Aufenthalt war von langer Hand geplant, und Christine wollte auf keinen Fall darauf verzichten. Ganz bewusst ging sie damit ein hohes Risiko ein, denn sie war zu diesem Zeitpunkt hne geeignete Medikation. Die Diagnose war noch frisch, das erste Medikament hatte sie wegen Unverträglichkeit absetzen müssen, die Zeit bis zur Abreise war zu knapp, um ein anderes Präparat auszuprobieren. Aber wie so oft in ihrem noch jungen Leben kam sie gut zurecht. „Ich war schon immer super-selbstständig“, sagt sie, „und schon immer gern allein mit mir. Die Zeit in China war sehr wichtig für mich, um nah bei mir zu sein und die Krankheit in mein Leben integrieren zu können.“

MS und Lebensplanung

Hat denn die MS Einfluss auf die Liebe, sprich mögliche Lebensgefährten und eventuell spätere Ehemänner? Die Bühlerin ist überzeugt, dass es ohnehin schon nicht einfach ist, Mr. Right zu finden. Wie viel schwieriger erst noch mit einer chronischen Krankheit wie der MS. Aber, so räumt sie ein, bei ihr lag es bisher nicht an der Krankheit, sondern eher an der Tatsache, dass sie keine Familie gründen möchte. „Zweimal Au-pair, das reicht. “ Bei ihren Jobs in Sydney und später Bilbao hat sie erfahren, wie aufwändig es ist, für die Kinder alles mit zu organisieren. Der jungen Power-Frau ist ihre Ungebundenheit wichtiger. Also bleibt sie auch beim Thema Partnerschaft entspannt.

An ihrer Lebenseinstellung hat die Diagnose nichts geändert, vielleicht hat sie einige ihrer Charaktereigenschaften noch geschärft: ihre Entschlussfreudigkeit, Selbstständigkeit, Zielstrebigkeit. Und auch ihre Werte haben durch die Krankheit höchstens an Kontur dazu gewonnen: Freiheit, nicht nur zu reisen, sondern überhaupt zu tun und zu lassen, was und wo immer man will. Für Christine der wichtigste Wert überhaupt.

Gedanken oder gar Sorgen um die Zukunft macht sie sich wie jeder junge Mensch. Für sie kommen jedoch Fragen hinzu wie: Was werde ich wann noch können, was nicht? Wie lange kann ich selbstbestimmt und ohne Unterstützung leben? Wann kommt womöglich doch der Rollstuhl auf mich zu?

Gegen solch düstere Gedanken, die Christine durchaus mitunter umtreiben, wirken ihre drei Rezepte:

  • „Ab damit in den Hinterkopf und (symbolisch) die Tür absperren.“
  • Gespräche/Chats mit ihrer Neurologin, ihren „Mädels“ und Austausch in ihren WhatsApp-Gruppen mit anderen jungen MS-Erkrankten.
  • Durch Meditation ankommen und im Augenblick leben.

Für junge Leute mit MS ist es nach Christines Überzeugung wichtig, sich auf Augenhöhe mit Altersgenossen austauschen zu können. Neben den Aktivitäten der AMSEL, die sie sehr schätzt (seit 2017 ist sie Mitglied), hat Christine zusammen mit Alexander, den sie 2018 bei einem AMSEL-Wochenende in Stuttgart kennengelernt hatte, eine eigene Facebook-Gruppe, die „Kaiser-Pinguine“, gestartet, ein Forum speziell für junge MS-Betroffene. Auch hier hat die resolute junge Frau die Initiative ergriffen und macht ihr eigenes Ding.

Nichts hält sie in Deutschland. „Meine Wurzeln habe ich in mir selbst, ich brauche keine anderen in irgendeinem Land“, sagt Christine, „das Meer ist meine Heimat.“ Ihre Idealvorstellung eines erfüllten Lebens: ein fordernder Job in der Finanzwelt zum Beispiel in Hongkong oder Singapur, alle zwei Jahre in einem anderen Land, und bitte immer mit einem Haus am Strand. Im Dezember will sie Kolumbien „erobern“, dort ihren Tauchschein machen. Etwas auf die lange Bank schieben? Geht gar nicht.

Quelle: together 1.2020

Redaktion: AMSEL e.V., 27.12.2020