Multiple Sklerose in verschiedenen Lebensphasen: together 2020
2020 beschäftigte sich das AMSEL-Mitgliedermagazin together mit Multipler Sklerose in unterschiedlichen Lebensphasen. Insgesamt erschienen oder erscheinen noch:
- #1: Jung und MS - Stellschrauben in der Lebensplanung
- #2: Die Lebensmitte - Bausteine zum Umbau der Lebensplanung und
- #3: Gut gerüstet in den Ruhestand.
Dazu erschien jeweils ein Porträt eines Menschen mit Multipler Sklerose von Christine, Roland und Waltraud. Die Multiple Sklerose verläuft individuell völlig unterschiedlich. Daher können diese Porträts auch nicht repräsentativ für die jeweilige Lebensphase stehen, sondern geben Einblick in ganz persönlche Biografien.
Mathematik, Musik, Multiple Sklerose
Waltraud (70) blickt zurück auf ein rundum gelungenes Leben: Bilderbuch-Karriere als promovierte Mathematikerin, harmonische Ehe, ein Sohn, zwei Enkelkinder, wunderschönes Haus in Flacht. Mit 55 bekam sie die Diagnose Multiple Sklerose. Lässt sich so ein Schock im reiferen Alter besser verdauen als in jungen Jahren? Was bedeutet es, mit MS „alt“ zu werden? Geht man mit der Unberechenbarkeit der Krankheit gelassener um? Hat man weniger Ängste? In Waltrauds Alter kommen andere Fragen hinzu: Schon wieder ein guter Bekannter lebensbedrohlich erkrankt! Diese Nachricht quittiert sie gerne mit „Wie gut, dass wir gesund sind!“ Mittlerweile ein geflügeltes Wort von ihr. Ernst gemeint, aber doch nicht ohne einen Schuss Selbstironie.
Karriere und rätselhafte Krankheit MS
So richtig gesund war Waltraud seit ihrem 26. Lebensjahr nicht mehr, da hatte sie ihre erste Sehnerventzündung und Blasenprobleme. Eine Lumbalpunktion ergab die Diagnose „vermutlich Erkrankung des Nervensystems“, die Werte waren wohl im Grenzbereich, die Symptome verschwanden von selbst wieder. Von MS noch keine Rede. Also lebte sie ihr Leben ganz normal weiter. Ihr Diplom hatte sie schon in der Tasche, lehrte als Dozentin Mathematik und Informatik an der Universität Stuttgart, ihre Dissertation war auf dem Weg. Der Kinderwunsch des Paares musste bis nach der Promotion warten. Ihr Vortragsmanuskript für einen Kongress in Tokio wurde angenommen, ein unerhörter Erfolg für die junge Frau! In den 9 Monaten bis zu ihrem Vortrag lernte sie an der Volkshochschule erst mal Japanisch. Mit ihrem Mann Jörg, selbst promovierter Physiker, reiste sie nach Japan. Zum Teil war dieser Erfolg schon hart erkämpft, denn nach dem ersten Schub (wie man erst später wusste) war ihr eine abnorme Ermüdbarkeit geblieben, außerdem war ihre Sehfähigkeit geschwächt. Insbesondere das Lesen, ihre große Leidenschaft, fiel ihr immer schwerer.
Zielstrebig trieb die gebürtige Stuttgarterin ihre Karriere dennoch weiter voran, gegen den Widerstand ihres geschwächten Körpers. Mit 38 Jahren stellte sich der ersehnte Nachwuchs ein, Sohn Felix kam zur Welt. Fortan managte das zierliche Energiebündel Beruf, Kind und die letzten noch laufenden Arbeiten am neuen Haus in Flacht. 2004, ein Jahr vor Felix‘ Abitur, fühlte sich Waltraud so ausgelaugt und schwach, dass sie eine Kur beantragte. Nach jahrelanger Ungewissheit bekam sie in der Rehaklinik in Bayreuth ohne weitere Untersuchungen die Diagnose MS. Ihre Reaktion im Gespräch mit der dortigen Psychologin: „Wenn ich’s hab, wäre das ein Segen“. Nun wusste sie endlich, warum sie so war, wie sie eben war. Eine große Erleichterung für sie, denn jetzt war der Grund ihrer Unpässlichkeiten klar. Die Zeit in der Reha nutzte sie, um die Diagnose zu verarbeiten.
Durchhalten mit MS
Ihre Krankheit bewahrte sie als ihr Geheimnis. Nur die Familie und ihren Chef weihte sie ein. Alle anderen hatten sich längst an ihre Sehprobleme, Ermüdbarkeit und ihren bedächtigen Gang gewöhnt. Rücksichtnahme und Respekt erfuhr sie ohnehin von allen Seiten. Mann und Sohn waren ebenfalls bereits in ihre Krankheit hinein gewachsen. Die Diagnose nahm einen großen Druck von ihr, denn nun musste sie sich nicht mehr erklären. Hatte ihr Mann Jörg anfangs manchmal etwas unwirsch reagiert, wenn sie „ständig“ zur Toilette musste oder aus diesem Grund Kinobesuche verweigerte, „jetzt reiß dich doch mal zusammen“, war ihre Antwort lapidar: „Ich bin schon zusammengerissen“. „Das kriegen wir schon hin“, war seine Reaktion auf die Diagnose. Er konnte ja nicht wissen, was da alles auf sie beide zukommen würde, was sie hinkriegen mussten. Aber sie haben es geschafft, „er ist geblieben“, lächelt sie.
Geholfen haben ihnen dabei auch die Veranstaltungen der AMSEL, zu denen Jörg seine Frau begleitete. Hier bekamen sie wichtige Informationen über die Krankheit, trafen andere Betroffene. Beide lernten dadurch ihre eigene Situation einzuordnen, auch die guten Seiten daran zu sehen. Zur AMSEL kam Waltraud übrigens erst in ihrem „Unruhestand“, davor wäre keine Zeit gewesen. Kurz nach dem sie Gemeindebeauftragte für Erwachsenenbildung in Flacht wurde, übernahm Waltraud die Leitung der Kontaktgruppe Leonberg. Die Begegnungen bei Kaffee und Kuchen, Stammtisch, Ausflügen, die sie organisiert, sind ihr heute so wichtig wie früher ihre Lehrtätigkeit. Den Corona-Lockdown bewältigte sie zusammen mit ihrer Gruppe durch Emails und Telefonate. Das erste Kaffeetreffen sofort nach Lockerung der Schutzmaßnahmen fühlte sich etwas „befremdlich“ an. Kein Wunder, wenn die alten Bekannten plötzlich mit Schutzmaske erscheinen. Inzwischen ist das Normalität und die Treffen finden wieder regelmäßig statt.
Eine Herzensangelegenheit ist ihr auch das „heilsame Singen“, das sie in der Regel zweimal im Monat leitet. Hier kann sie ihre zweite Leidenschaft wenigstens ein bisschen ausleben: Neben den Zahlen ist das die Musik. Die passionierte Pianistin kann nicht mehr nach Noten spielen. „Durch mein Sehproblem kommen die Noten nicht mehr so schnell in meine Hände, wie sie müssten“, sagt sie resigniert. Ein ganz großer Verlust für sie, die zur Geburt ihres ersten Enkelkindes trotz diesem Handicap ein Willkommenslied komponiert, getextet und gespielt hat.
Die Bilanz
Einfach war es noch nie und ist es auch heute noch nicht. Manchmal nagt es schon an Jörg, dass sie nicht viel, nicht weit in Urlaub reisen können und vor allem nicht in warme Länder, gerade jetzt, wo sie beide Zeit hätten. Er hatte seine Frau mit 60 dazu gedrängt, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Vernünftig, denn Waltraud muss zugeben, dass sie aufgrund der Fatigue, Spastik und anderer Einschränkungen immer mehr Zeit für die alltäglichen Dinge braucht und einige auch an Jörg delegieren muss. Einen großen Einschnitt bedeutete für sie, nicht mehr „Herrin über ihre Küche“ sein zu können. Einige Handgriffe, Frühstück richten oder Ähnliches schafft sie, nicht aber ein ganzes Essen zu kochen. Die pragmatische Lösung: Jörg hat sich ein Kochbuch zugelegt, mittlerweile ist er Küchenchef. Waltraud schmerzt das sehr, „Loslassen ist eine existenzielle Lehre der MS und auch im Alter nicht leicht“, sagt sie.
Gedanken oder gar Sorgen über die Zukunft macht sich Waltraud nicht. In jüngeren Jahren hätte sie vielleicht mehr gegrübelt, ihre Karriere infrage gestellt. Zukunftsängste? Ab und zu fragt sie sich, wer von ihnen beiden zuerst wird gehen müssen – sicher kein ungewöhnlicher Gedanke in ihrem Alter. Am liebsten wäre das sie selbst, denn dann könnte Jörg sie „aufräumen“ und alles wäre gut. Andernfalls müsste sie schauen, wie sie ihr Leben allein schafft. Durchhalte vermögen sieht sie als eine ihrer Stärken, Zielstrebigkeit und eben auch Einsicht, falls es gar nicht geht. Da kommt dann ihr Erfindergeist zum Einsatz, irgendeine Lösung hat sie bisher immer gefunden. Aber lange hält sie sich mit trüben Gedanken nicht auf.
Ende 2019 kam Enkel Nummer 2 auf die Welt. Waltrauds Wunschtraum: dass sie eines Tages doch wieder besser laufen kann, zusammen mit ihren Enkeln. Eher eine Illusion. Aber: „So wie es war, war es richtig“, resümiert Waltraud ihr Leben voller Zufriedenheit.
Quelle: AMSEL e.V., together 03.2020
Redaktion: AMSEL e.V., 29.12.2020