Multiple Sklerose in verschiedenen Lebensphasen: together 2020
2020 beschäftigte sich das AMSEL-Mitgliedermagazin together mit Multipler Sklerose in unterschiedlichen Lebensphasen. Insgesamt erschienen oder erscheinen noch:
- #1: Jung und MS - Stellschrauben in der Lebensplanung
- #2: Die Lebensmitte - Bausteine zum Umbau der Lebensplanung und
- #3: Gut gerüstet in den Ruhestand.
Dazu erschien jeweils ein Porträt eines Menschen mit Multipler Sklerose von Christine, Roland und Waltraud. Die Multiple Sklerose verläuft individuell völlig unterschiedlich. Daher können diese Porträts auch nicht repräsentativ für die jeweilige Lebensphase stehen, sondern geben Einblick in ganz persönlche Biografien.
Geradeaus im Leben mit MS
„MS vergessen geht halt nicht“, räumt Roland ein. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen, wird oft von heftigen Trigeminus-Schmerzen geplagt, die ganze linke Körperhälfte funktioniert nicht so, wie sie sollte, und oft führt die kleinste Anstrengung zu bleierner Erschöpfung. Die Krankheit lässt dem Nürtinger keine andere Wahl als sie zu akzeptieren, mit seinen Einschränkungen zu leben, und dem Leben trotzdem das Beste abzugewinnen. Und das schafft er. Sein Rückhalt sind seine Frau Gabi, ihr gemeinsamer Sohn Daniel (20) und sein tiefer christlicher Glaube.
Roland war immer ein „Schaffer“, erlernte seinen Traumberuf Bau- und Möbelschreiner. Schon als Kind machte er zusammen mit dem Vater gerne Holzarbeiten. Seine berufliche Laufbahn ging geradeaus, ohne Umwege. Schreinerlehre in einem Klein- betrieb, Bundeswehr, erste Stelle bei einem großen Hersteller von Bankeneinrichtungen. Wechsel zu einem bekannten Automobilzulieferer für Innenausstattung, Engagement im Betriebsrat, immer mit Herzblut bei der Arbeit und den Belangen der Arbeitnehmer.
Ähnlich geradlinig die Liebesgeschichte mit seiner Frau Gabi: im Oktober 1997 lernten sie sich in der Kirche kennen, im Dezember desselben Jahres wurde Verlobung gefeiert, im Juni 1998 heiratete das Paar. Im September 1999 kam ihr Sohn Daniel zur Welt.
Umweg Multiple Sklerose
Kurz nach der Jahrtausendwende machten sich bei dem jungen Ehemann die ersten MS-Symptome bemerkbar: Sensibilitätsstörungen an Händen und Gesicht, Nervenschmerzen, Artikulationsstörungen, schnelle Ermüdbarkeit. Roland litt nicht nur unter den Symptomen, die weder sein Hausarzt noch der Orthopäde ein- ordnen konnte, sondern vor allem auch unter der Tatsache, dass er sehr oft krankgeschrieben werden musste. Als er 2007 mit linksseitiger Lähmung ins Krankenhaus eingeliefert wurde und endlich die Diagnose MS bekam, war das zwar eine niederschmetternde Nachricht, aber doch auch eine Erleichterung für ihn. Endlich wusste er, woran er war! Zunächst versuchte er, die Gedanken an die Krankheit zu verdrängen. Er brauchte lange drei Jahre, bis er sie akzeptieren konnte. Ein weiterer Einschnitt war seine Berentung im Jahr 2009. Schmerzlich, aber wieder zugleich eine Erleichterung, denn nun brauchte er keine Krankmeldungen mehr. Er bedauerte sehr, dass die Umschulung, die er sich so sehr wünschte, nicht genehmigt wurde, weil er auch dafür nicht mehr leistungsfähig genug war. Körperliche Arbeit kam ohnehin nicht mehr in Frage, aber auch seine Artikulations- und Konzentrationsprobleme hatten zugenommen. Der nächste Einschnitt: der Rollstuhl. Vor etwa fünf Jahren musste er dieses Hilfs- mittel für sich zulassen. Sein Leben wäre leichter gewesen, hätte er sich schon früher darauf eingelassen, weiß er heute. Aber diese Einsicht musste erst mal wachsen. Heute belasten ihn am meisten die Fatigue, Trigeminus-Schmerzen und vor allem die Spastik seiner linken Hand, so dass er für alltägliche Handgriffe zunehmend Hilfe braucht. Der passionierte Schreiner hat die sekundär progrediente Verlaufsform der MS, wobei er seit nunmehr zwei Jahren schubfrei geblieben ist. Nach einigen Versuchen mit verschiedenen Medikamenten ist Roland zu einer Basistherapie zurückgekehrt.
Gemeinschaft mit und bei Multipler Sklerose tut gut
Dies gilt für ihn als Betroffenen wie auch für seine Frau. Deshalb nutzen beide die Angebote der AMSEL auf breiter Front: Neben den Online-Informationen und Veranstaltungen zu neuen Medikamenten, Therapiemöglichkeiten usw. steht für beide der Austausch mit Menschen in der gleichen Situation im Vordergrund. Roland ist Mitglied der Kontaktgruppe Ostfildern. Mit der Gruppe beteiligt sich das Ehepaar regelmäßig an Märkten im Umkreis. Hier sind sie mit Infoständen und Aktionen zur Spendengewinnung vertreten. Unvergesslich sind der Familie die Familienfreizeit der AMSEL, dort waren sie im Jahr 2008, und der Sommerurlaub 2019 an der Nordsee. Die Temperaturen am Meer waren für Roland genauso wohltuend wie das Wasser-Shiatsu und die Hippotherapie, die seine Kontaktgruppe mehrmals im Jahr anbietet. Wann immer es sich einrichten lässt, ist Roland dabei. Ein weiterer Kraftquell ist ihm der Lehr- und Versuchsgarten der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen oder der benachbarte Waldfriedhof, wo er zusammen mit seiner Familie gerne Eichhörnchen & Co. beobachtet. Für weitere Lichtblicke sorgen Kanarienvogel Speedy, dessen frohe Natur und Gesang er sehr schätzt. Und natürlich die Späße von Daniel, der seinen Vater manchmal liebevoll-komisch imitiert und so seine Eltern immer wieder zum Lachen bringt. Lachen tut einfach gut, da ist sich die Familie einig.
Zwischenbilanz in der Lebensmitte
Apropos Meer: „Einmal am Tag in Gedanken ans Meer reisen. Alle Termine, Pflichten und Sorgen vergessen. Und den Fuß vorsichtig ins kühle Nass setzen. Spüren, dass wir klein sind wie ein Tropfen. Und doch einzigartig und wunderbar.“ Mit solchen Gedankenreisen schafft es Roland, auch die widrigen Momente des Lebens in den großen Zusammenhang zu stellen und zur Ruhe zu kommen. Frieden zu machen mit der Krankheit. Roland hat die Erfahrung gemacht, dass es sich leichter lebt, wenn er die MS als ständige Begleiterin im Alltag akzeptiert. Dass sie stets präsent ist, lässt sich aufgrund seiner Schmerzen und Hilfsbedürftigkeit ohnehin nicht verleugnen.
In der Lebensmitte braucht man keine rosarote Brille mehr, meint er. Man ist im Leben und in der Realität angekommen und so weit gefestigt, dass man auch weniger schönen Ereignissen sachlich ins Auge sehen kann. Damit fühlt man sich eher für die Zukunft gerüstet als in jungen Jahren, kann auch schwierigen Situationen mit einer gewissen Gelassenheit begegnen. Man hat ja schon gelernt, dass es immer irgendwie weitergeht. Diese Abgeklärtheit hilft auch, Ziele nicht mehr mit Gewalt erreichen zu wollen. Sondern einfach die Dinge auf sich zukommen zu lassen und dann entsprechend zu handeln, sich an die Situation, auch an die Erfordernisse der Krankheit anzupassen.
„Ich durfte eine wundervolle Frau finden, habe einen wunderbaren Sohn, zusammen sind wir ein tolles Team. Ich habe viele Freunde und ich habe viel gelernt in diesem Leben“, bringt Roland alles auf den Punkt. Da schwingt eine ruhige Zufriedenheit und die Zuversicht auf viele weitere schöne Jahre mit. Von „Midlife Crisis“ keine Spur.
Quelle: AMSEL e.V., together 02.2020
Redaktion: AMSEL e.V., 28.12.2020