Welt MS Tag mit "Stau am Gehirn"

Ein begehbares Gehirn und dazu jede Menge Infos von fachkundigen Menschen - das war tagsüber der Magnet in den Königsbau Passagen. Abends dann drei restlos ausgebuchte Vorträge rund um die unsichtbaren Symptome der MS – einiges los bei der AMSEL-Veranstaltung zum Welt MS Tag.

So wie Sven geht es manch einem an diesem Mittwoch. Bummelt in seiner Mittagspause durchs Erdgeschoss der Königsbau Passagen und entdeckt am Ausgang in Richtung Kleiner Schlossplatz ein riesiges rosafarbenes Gebilde. Die Neugier geweckt, nähert er sich der Skulptur: Aha, ein Gehirn im Großformat!

Der 11. Welt MS Tag ließ die Multiple Sklerose mit einem begehbaren Gehirn und einer Vortragsreihe in Stuttgart #sichtbarwerden. - Zur Fotostrecke.

Ob er sich das Gehirn nicht auch von innen anschauen wolle? Ja, schon, aber gerade sei "Stau am Gehirn". Und in der Tat: Das begehbare Gehirn ist in diesem Moment dank des großen Interesses „verstopft“. Drei Menschen befinden sich im Inneren des Modells und noch mal so viele warten davor.

Welt MS Tag mitten in Stuttgart

Zum elften Mal bereits gibt es den Welt MS Tag. Zum elften Mal auch feiert die AMSEL diesen Tag im Herzen Stuttgarts. Auf einer Aktionsfläche mit begehbarem Gehirn tagsüber in den Königsbaupassagen und mit drei Fachvorträgen abends im Haus der Katholischen Kirche. Beides tatsächlich am Vortag zum offiziellen Welt MS Tag (ab sofort immer am 30. Mai), denn dieser fällt in Deutschland 2019 auf einen Feiertag.

#sichtbarwerden lautet das Motto des Welt MS Tages 2019. Weil die Multiple Sklerose als Ganzes noch nicht genügend bekannt ist in der breiten Öffentlichkeit. Und weil viele Menschen mit MS an unsichtbaren Symptomen leiden. Zum Beispiel Michael [Name von der Redaktion geändert]:

Keiner kann in einen hineinschauen

Der Mittvierziger leidet vor allem an Fatigue. Das Symptom ist derart ausgeprägt bei ihm, dass er nicht mehr zu 100 % arbeitsfähig ist. Außerdem hat er Probleme mit dem Gehen. Seine Gangataxie ist ein besonderes Symptom, fast ein Chamäleon: Ist sie stark ausgeprägt, dann ist sie sehr gut sichtbar für Außenstehende, weil er schwankt, ist sie weniger stark ausgeprägt, merkt nur Michael selbst, dass es anstrengend ist zu gehen. Er hat seit rund zehn Jahren die Diagnose Multiple Sklerose. Vom Welt MS Tag in den Königsbau Passagen hat er über die AMSEL-Facebookgruppe und andere Internetseiten erfahren.

Vor allem die Fatigue schränkt Michael stark ein: "Das Problem ist: Man sieht's einem nicht an." Niemand: Weder Kollegen noch Nachbarn oder Freunde können in einen hineinschauen. Außerdem höre er oft "Ich habe einen Bekannten, der auch MS hat." MS sei aber unterschiedlich.

Späte Diagnose

Das beweist sich zwei Schritte weiter. Hier steht Brigitte. Sie ist schon knapp 70 und hat gearbeitet bis 64. Sie läuft noch gut, bis zu anderthalb Stunden in der Ebene und nach einer großen Pause die gleiche Zeit noch mal. Ihre Diagnose MS erhielt die rüstige Dame zwar erst mit 60, im Nachhinein weiß sie jedoch, dass die Multiple Sklerose bei ihr vermutlich schon mit Ende 20 losging.

Damals hatte sie einen guten wenn auch anstrengenden Job, bei dem sie viel stehen musste. Sie war, noch keine 30 Jahre alt, abends immer völlig k.o., ihre Beine schmerzten nicht nur: Sie wollten einfach nicht mehr. Brigitte hat sich andere Schuhe gekauft, Paar um Paar, aber nichts half. Schließlich hat sie gekündigt und das, obwohl man, wie sie sagt "einen Job beim Daimler eigentlich nicht aufgibt."

Rückblickend weiß sie, das das damals vermutlich schon die MS war. Auch heute kann sie nicht so lange stehen oder gehen wie Gleichaltrige. Sie hat dann einen Job in der EDV gehabt, bis sie 64 war. Außerdem plagen sie manchmal Probleme mit der Sprache. Ihre Zunge gehorcht ihr dann nicht immer. Dazu verschmlimmern sich ihre Symptome bei Hitze und sie ist stressempfindlich.

Den Welt MS Tag und speziell solche Aktionen wie das begehbare Gehirn der AMSEL findet sie gut, "weil die MS einfach publik gemacht werden soll.“ Die Leute wüssten zu wenig über MS, und wenn sie etwas wissen, dann oft nur das Vorurteil, dass mit MS der Rollstuhl drohe. Sie selbst zeigt, dass dies überhaupt nicht der Fall sein muss. Und dass die Welt klein ist: Ihre Nachbarin, rund 30 Jahre jünger, hat auch MS. Mit ihr ist sie vom Kreis Göppingen in die Landeshauptstadt gereist.

Arbeiten mit und trotz MS

Arbeiten mit MS ist auch für andere Gesprächsthema am Stand. Positives vermelden zwei der ehrenamtlichen Berater: Im Unternehmen des einen führt ein Mitarbeiter trotz seiner MS eine Maschine. Er kennt sich und seine Erkrankung so gut, dass er weiß, wann er eine Pause braucht und lieber einen Kollegen zu Hilfe ruft. Das klappe sehr gut. Ein weiterer Ehrenamtlicher berichtet erfreut davon, dass in seinem Betrieb erst kürzlich jemand mit MS eingestellt wurde. Die Geschäftsleitung kam auf ihn zu und hat sich über MS informiert. Das klappe nicht immer so hervorragend. Oftmals seien es schlicht und ergreifend das Unwissen und die Angst, die daraus entsteht, welche Entscheidungsträger davon abhält, Menschen mit Multipler Sklerose einzustellen.

Angela, Jonas, Daniela oder Sabine: Das Gehirn war gut besucht an diesem Mittwoch. Restlos ausgebucht war auch die Abendveranstaltung im Haus der Katholischen Kirche mit drei Vorträgen zu unsichtbaren Symptomen der Multiplen Sklerose.

Unverständnis gegenüber unsichtbaren Symptomen

Unsichtbare Symptome belasten doppelt, weiß jeder, der von ihnen betroffen ist. Denn zu den Auswirkungen der nicht sichtbaren Krankheitsfolgen kommt das Unverständnis des Umfelds, das ja nichts sieht von Schmerz, Fatigue, Kognition, Blasenfunktionsstörung und vielem mehr.

Was die Öffentlichkeit nicht weiß ist, dass Schmerz ein sehr häufiges Symptom der MS ist. Jeder Zweite leidet im Verlauf seiner Erkrankung an Schmerzen, betonte Dr. med. Michael Fritz in seinem Vortrag. Hier gelte es, genau hinzuschauen, um feststellen zu könnnen, ob ein Erkrankter an Schmerzen leide, die durch MS-Symptome entstehen (nozizeptive Schmerzen) oder an MS-bedingten Schmerzen (neuropathische Schmerzen). Erst dann, weiß die Ärztliche Leitung Schmerztherapie des SRH Klinikums Karlsbad, könne entschieden werden, ob eine medikamentöse, eine nicht-medikametöse, eine multimodale Therapie oder ein invasives Verfahren einzusetzen sind.

Drüber reden - wenigstens mit dem Arzt

Über die nicht sichtbaren und schambehafteten Blasenfunktionsstörungen sprach informativ und mit viel Humor Dr. med. Martin Rösener und hatte auch gleich Hilfsmittel mitgebracht, die Betroffene im Alltag nutzen können. Der niedergelassene Stuttgarter Neurologe erklärte nicht nur die Einsatzmöglichkeiten dieser Hilfsmittel, sondern die verschiedenen Blasenfunktionsstörungen: wie sie diagnostiert werden und vor allem auch, wie ihre Therapie aussieht. Unumgängliche Voraussetzung für die Therapie sei aber, darüber mit seinem behandelnden Arzt zu reden. Denn Blasenfunktionsstörungen führten leicht zu Harnwegsinfektionen, die wiederum Schübe auslösen könnten.

Fatigue und Kognition sind beides Symptome der MS, die bei einem Großteil der Betroffenen unbehandelt bleiben, zeige das deutsche MS-Register, so Prof. Dr. med. Peter Flachenecker. Eine sorgfältige Diagnose sei erforderlich. Denn gerade die Fatigue könne dauerhaftes oder vorübergehendes Symptom sein, eine körperliche und geistige Komponente haben. Zur Therapie gebe es vor allem eine Palette an nicht-medikamentösen Therapien wie z.B. Energiemanagment, Vermeidung von Überwärmung, Ausdauer- und Aufmerksamkeitstraining. Auch für die kognitiven Symptome gelte, dass eine gründliche Diagnose die Voraussetzung für eine passende Therapie sei, so der Chefarzt des Neurologischen Rehabiliationszentrums Quellenhof. Für sie gebe es ebenfalls überwiegend nicht-medikamentöse Therapien.

Mit der Beantwortung individueller Fragen, entspannten Begegnungen und dem Knüpfen neuer Kontakte klang der elfte Welt MS Tag im Haus der Katholischen Kirche aus. Die MS #sichtbarwerden zu lassen gilt es auch nach diesem Tag.

AMSEL e.V. bedankt sich bei der DAK für die freundliche Unterstützung zum Welt MS Tag 2019.

Redaktion: AMSEL e.V., 31.05.2019