Es ist wahr: MS ist nicht bei allen gleich. Im Gegenteil, gibt es wenige chronische Erkrankungen, die so verschieden verlaufen und die sich zugleich so schlecht vorhersagen lassen wie Multiple Sklerose.
Bei der Multiplen Sklerose gibt es völlig unterschiedliche Verläufe. Die eine MS schreitet schnell voran, macht einen Menschen berufsunfähig, raubt ihm möglicherweise Mobilität und Selbständigkeit. Lässt die Konzentration auf ein Minimum sinken, die Fatigue, eine abnorme Ermüdbarkeit, dafür in die Höhe schnellen.
Die meisten Patienten sind weder bettlägerig noch laufen sie Marathon
Bei einem andern entwickelt sich die MS dagegen langsam oder sogar kaum merklich. Man spricht dann von einem benignen Verlauf. Im Prinzip führen diese Menschen ein fast normales Leben, haben keine oder kaum Behinderungen. Und dennoch MS.
Das Gros der Patienten findet sich irgendwo dazwischen. MUSS nicht auf den Rollstuhl angewiesen sein, KANN es aber. MUSS nicht berufsunfähig werden, es KANN aber doch passieren. Das ist mit das Schlimmste, was Betroffene mit der Diagnose MS empfinden: Die Unsicherheit, wie es wohl weitergeht.
Und dann wieder Schlagzeilen wie diese: Lori Schneider erklimmt den Mount Everest. Mittlerweile ist sie der erste Mensch mit MS, der die sieben Riesen alle bezwungen hat (MSIF Profil 2009). Oder Manuel, der Marathon läuft. Ebenso Claudia, über deren Halbmarathon DER SPIEGEL berichtet hat. Eine Ministerin, die ihrem verantwortungsvollen Job trotz MS nachgehen kann.
"Mensch beißt Hund"
Das sind freilich Ausnahmen, doch gerade weil sie Ausnahmen sind und so scheinbar Unvereinbares wie Höchstleistung und Multiple Sklerose miteinander verbinden, sind sie natürlich besonders interessant, frei nach der journalistischen Regel: Wenn ein Hund einen Menschen beißt, ist es keine Schlagzeile wert, wohl aber im umgekehrten Fall.
Als bemerkenswerte Ausnahme - und hier sind die Leser gefragt - sollten diese Schlagzeilen immer auch gelesen werden. Denn nichts ist entmutigender für MS-Erkrankte mit bestimmten Behinderungen, als Hinweise darauf, was andere alles können, obwohl sie die "gleiche" Krankheit haben. Gleiche Krankheit bedeutet eben nicht gleiche Behinderungen.
Das Training der Behinderung anpassen
Manche Menschen mit MS können nämlich nur davon träumen, ohne fremde Hilfe zum Bäcker zu gehen. Haben an manchen Tagen sogar Probleme, ihre Zeitung selbst umzublättern, könnten ohne fremde Hilfe überhaupt nicht vom Bett zum Rollstuhl wechseln wie Werner H. Der 66-Jährige macht täglich Übungen in Eigenregie, um die ihm verbliebene Beweglichkeit zu erhalten. Er bekommt regelmäßig Krankengymnastik, um seine Muskulatur und Sehnen zu dehnen. Mit am wichtigsten ist ihm das Stehtraining. "Wenn ich nichts mache, ist es aus. Das weiß ich," sagt der gelernte Handwerker.
Die meisten MS-Betroffenen gehören aber weder zur ganz benignen Gruppe noch zu den Schwerstbetroffenen. Sie halten es wie Alexander: Bewegung ja, olympische Ziele nein. Sind mit Ende 60 noch berufstätig oder vielleicht mit knapp 40 schon berentet. Meistern ihren Alltag mit oder ohne Gehhilfe, mit oder ohne Fatigue, mit oder ohne Blasenstörungen. So wie Ralf. Oder Daniela. Oder Gerda, Frank, Sophie, Marlene, Klaus, Holger, Emily und so weiter.
Deprimierende Vergleiche erst gar nicht anbringen
Ergo: Der eine Patient mit MS kann noch in Vollzeit arbeiten, während ein anderer nicht einmal einen Teilzeitjob bewältigen kann. Und das ist keineswegs davon abhängig, ob letzterer große Gehprobleme hat, einen Rollator nutzt oder einen Rollstuhl. Es gibt Menschen mit MS, die ihr Arbeitsleben vom Rolli aus meistern, andere dagegen können zwar noch gehen, haben aber zum Beispiel starke Fatigue oder auch Konzentrationsstörungen, die das unmöglich machen.
Die große Bitte an alle Nicht-Betroffenen: Keine Vergleiche anstellen, die mit "Ich kenne einen, der hat auch MS..." beginnen und mit "... der kann noch dies und das" aufhören. Das ist wenig hilfreich.
Völlig unterschiedliche Verläufe bei MS
Ganz wichtig: Keine MS ist gleich. Daher sind Kommentare wie "Ich kenn‘ aber eine, die hat MS und geht mit 65 noch arbeiten" unangebracht, wenn das Gegenüber wohl die 30 kaum überschritten hat, aber schon berentet ist. Vielleicht sitzt derjenige nicht mal im Rollstuhl, sondern leidet an unsichtbaren Symptomen wie Fatigue.
Es hilft ihm einfach nicht, wenn er mit einem anderen MS-Erkrankten verglichen wird, der offensichtlich noch mehr leisten kann als er selbst. Im Gegenteil erinnert es ihn an sein eigenes Unvermögen und kann ihn traurig stimmen. Fakt ist: Es gibt einfach völlig unterschiedliche Verläufe, bei der Multiplen Sklerose. Und jeder hat sein Schicksal zu tragen.
Redaktion: AMSEL e.V., 10.04.2015