Vor rund 120 Gästen vergab die Roman, Marga und Mareille Sobek Stiftung am 15. Dezember in der Musikhochschule Stuttgart mit den Forschungspreisen 2023 insgesamt 115.000 Euro an Preisgeldern und würdigt damit herausragende Forschungsleistungen auf dem Gebiet der MS. Die diesjährigen Preisträger der Sobek Stiftung sind den komplexen Krankheitsmechanismen der MS auf der Spur. Das bedeutet: Detektivarbeit auf molekular-immunologischer Ebene.
"Den Nobelpreis zu gewinnen war nicht halb so aufregend wie die Arbeit davor." - Mit diesen Worten zitierte Prof. Jost Goller, Vorsitzender des Kuratoriums der Sobek Stiftung, die Physikerin und Nobelpreisträgerin Maria Goeppert-Mayer und wünschte den künftigen Preisträgern der Sobek Stiftung das Gleiche für ihre Arbeit. 2023 sind dies der Nachwuchspreiträger Dr. Dr. Max Kaufmann aus Hamburg und, vom andern Ende der Republik, als "Münchener Duo" die Sobek Forschungspreisträger Prof. Martin Kerschensteiner und Prof. Thomas Korn.
Nicht nur den Ort ihres Schaffens haben die beiden Hauptpreisträger aus München gemein: Beide untersuchen die T-Zell-Regulation und die akute wie chronische Gewebeschädigung im Zusammenhang mit der MS. Beide haben an der renommierten Harvard Medical School geforscht. Und beide wurden vor Jahren mit dem Sobek Nachwuchspreis ausgezeichnet. Nun teilen sie sich den Sobek Forschungspreis 2023, den mit 100.000 Euro europaweit höchstdotierten Forschungspreis auf dem Gebiet der MS. Die beiden Forschungspreisträger hätten eine Basis für ein besseres Verständnis der Multiplen Sklerose und für die Entwicklung noch zielgerichteter Therapien gegen diese nach wie vor unheilbare Erkrankung geschaffen. "Damit schenken sie vielen MS-Erkrankten eine wertvolle Perspektive", so Ministerialdirektor Dr. Hans J. Reiter, Amtschef des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, in seiner Laudatio.
Zuschauen, wie eine Immunzelle ein Axon zerstört
Prof. Dr. med. Martin Kerschensteiner (52) leitet seit 2013 das Institut für Klinische Neuroimmunologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In seinem Vortrag zeigte er eindrückliche Filmaufnahmen der Axonschädigung: von der ersten Schwellung bis zur irreversiblen Durchtrennung der Nervenfasern. Er entdeckte früh im Degenerationsprozess Auffälligkeiten an den Mitochondrien, den „Kraftwerken“ der Zellen, die zu einem axonalen Energiedefizit führen und das Eindringen von Kalzium begünstigen, was wiederum die Degeneration beschleunigt. Durch spezifische MRT- und PET-Untersuchungen gelang Prof. Kerschensteiner der Nachweis, dass bei progressiver MS ein früher Verlust von Synapsen eintritt.
Aber welcher Botenstoff, welches Molekül ist dafür verantwortlich? Wo kann man den therapeutischen Hebel ansetzen? Zur Beantwortung dieser Fragen müsse die DNA intensiv erforscht werden. Ein weites Betätigungsfeld, das er mit seinem Kollegen, Freund [und Mit-Preisträger] Prof. Thomas Korn teilt, so Kerschensteiner. Erst jüngst konnten er und sein Team mit der Genanalyse CRISPR-Screen zeigen, wie nahezu optimal die bereits gegen MS zugelassenen Wirkstoffe hier ansetzen (amsel.de hatte über die CRISPR Screen -Analyse von T-Zellen berichtet).
Quantensprünge in der T-Zell-Immunologie und die Kinderstube auto-aggressiver Zellen
Prof. Dr. med. Thomas Korn (51) ist seit 2017 stellvertretender Direktor der Neurologischen Klinik am Klinikum rechts der Isar und seit 2019 Leiter des Instituts für Experimentelle Neuroimmunologie an der Technischen Universität München. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage nach der Herkunft der auto-aggressiven T-Zellen als Organisatoren der adaptiven Immunantwort bei Multipler Sklerose. In seinem Festvortrag gab der Preisträger einen Rückblick auf die Quantensprünge der T-Zell-Immunologie der letzten 50 Jahre als Basis für den heutigen Stand der Forschung: von grundsätzlichen Voraussetzungen bis hin zur Differenzierung unterschiedlicher T-Helferzell-Antworten.
Korn selbst war an der Entdeckung der Th17-Helferzellen 2007 entscheidend beteiligt. Dabei handelt es sich – neben Th1- und Th2-Immunantwort – um eine dritte Differenzierung der T-Zell-Immunität: diejenigen gewebeständigen T-Zellen, die direkt zu Gewebe "sprechen". Seine Arbeit konnte nicht zuletzt auch zeigen, dass die Herkunft der T-Zellen (Darm oder Haut), der Ort ihrer Aktivierung also, einen Einfluss auf die Lokalisation der Läsionen im ZNS (Rückenmark, Sehnerv, Gehirn beispielsweise), ihre Funktion und damit auf die Schwere und Progredienz der MS habe.
Integration von Molekularbiologie und Data Science - KI macht Riesenschritte
Der Arzt und Neuroimmunologe Dr. med. Dr. rer. biol. hum. Max Kaufmann vom Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose der Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf erhielt den Nachwuchspreis 2023. Kaufmann zeigte in seinem Vortrag, wie das komplexe Krankheitsgeschehen bei Multipler Sklerose sich in ebenso komplexe digitale Daten transformieren lässt. Diese wirklich großen Datenmengen – rund 180 Millionen (!) Datenpunkte – werden unter Verwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) gebündelt und zu nutzbaren Erkenntnissen verarbeitet, ein Prinzip, das bei der räumlichen RNA-Sequenzierung erfolgreich angewandt wird. Zwei einfache, mittels KI kreierte "Fotos" demonstrierten dem Sobek-Publikum anschaulich, wie rasant sich die Künstliche Intelligenz entwickelt: Ein grobes, vor Artefakten und verschwommenen Übergängen nur so wimmelndes Bild erzeugte die KI vor einem Jahr nach dem Auftrag, mehrere Neuroimmunlogen bei der Arbeit zu zeigen. Kaum ein Jahr später präsentiert die KI nach dem gleich Auftrag dagegen ein hochauflösendes Bild mit vermeintlich echten Menschen, auf Anhieb nicht zu unterscheiden von einem realen Foto. Die Pointe: Es ist zwar alles gestochen scharf und wirkt aufs Erste wie ein echt entstandenes Foto. Bei genauem Hinsehen jedoch entdeckt der Betrachter unterhalb einer Präsentationswand ein überflüssiges Paar Beine. Perfekt ist die KI also (noch) nicht. Allerdings – nach nicht mal einem Jahr – auf gutem Weg dorthin.
Data Science in der Erforschung der MS eröffne neue Perspektiven für die Entwicklung individualisierter Therapeutika. Die Integration von Molekularbiologie und Data Science biete ein hohes Potenzial, um neue Therapiestrategien zur Behandlung insbesondere der progredienten MS zu definieren, fasst der Vorsitzende des Beirats und Laudator Prof. Klaus V. Toyka Kaufmanns Arbeit zusammen.
Erstmals vergeben: Ehrenpreis der Sobek Stiftung
Prof. em. Dr. Adriano Fontana erhielt den erstmalig vergebenen Ehrenpreis der Sobek Stiftung für sein Lebenswerk. Der Schweizer Wissenschaftler war Direktor der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich und Professor an der Medizinischen Fakultät und Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Seit 2011 ist er emeritiert. Er gilt als einer der Pioniere der modernen Neuroimmunologie. Seine Erkenntnisse haben das heutige Verständnis der MS entscheidend geprägt, sowohl "in konzeptioneller als auch klinischer Hinsicht“, wie Laudator Prof. Dr. med. Hartmut Wekerle, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Sobek Stiftung und ebenfalls Koryphäe der MS-Immunologie, bekräftigte. Einige der heute zugelassenen Mittel gegen Multiple Sklerose fußten auf Fontanas Erkenntnissen. Damit habe er wesentlich zur Krankheitsbewältigung und Lebensqualität von MS-Betroffenen beigetragen.
Prof. Josep Dalmau von der Universität Barcelona, Sobek Preisträger des Jahres 2018, berichtete von den neuesten Erkenntnissen seines Teams zu antikörpervermittelten Autoimmunerkrankungen des Gehirns, und stellte damit die MS in den Kontext vieler autoimmuner Erkrankungen des Zentralennervensystems. Dalmau zeigt Grenzen und Bezüge auf zwischen Genetik, Viren und Krebserkrankungen einerseits und autoimmunen Erkrankungen des Nervensystems andererseits.
Superpower für die MS-Forschung
"Neugier, Durchhaltevermögen und Entschlossenheit ist gerade auf dem Gebiet der Grundlagenforschung notwendig", so Adam Michel, Vorsitzender der AMSEL. Die Sobek Stiftung unterstützt Forscherinnen und Forscher dabei vorbildlich. In ihrem Schlusswort brachte Andrea Schildhorn als Vertreterin des Deutschen Stiftungszentrums die Verbindung von Stiftung und Forschung als „perfect match“ auf den Punkt: Finanzielle Unterstützung auf der einen und das Durchhaltevermögen der Forschenden auf der anderen Seite sorgten für die "Superpower", die für die Erforschung der komplexen Immunpathologie der MS erforderlich sei. So können die Sobek Preise einmal mehr dazu beitragen, Forscherinnen und Forscher dazu anzuspornen, die MS noch besser zu verstehen, damit Patientinnen und Patienten auf der ganzen Welt trotz MS ein erfülltes Leben führen können.
MS.TV 2023: Wissenschaftler hautnah
Was machen die eigentlich in ihren Laboren?
Was gibt es Neues über die MS?
Darüber, wie sie entsteht und wie man sie behandelt?
Die Sobek-Preisträger und -Nachwuchspreisträger 2023 sowie frühere Preisträger antworten MS.TV mit anschaulichen Antworten auf einfache Fragen:
- Video mit Prof. Martin Kerschensteiner: Was T-Zellen dazu bringt, eine MS auszulösen
- Video mit Prof. Thomas Korn: Orchestrierung der T-Zellen bei Multipler Sklerose
- Video mit Dr. Dr. Max Kaufmann: Krankheitsmechanismen bei MS
Redaktion: AMSEL e.V., 18.12.2023