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Erwartungen an neue Therapieansätze: Progrediente MS und MS im Alter

Full House beim AMSEL-Symposium Multiple Sklerose 2022: BTK-Inhibitoren, Impfung gegen MS, höheres Lebensalter und ein Blick auf die geänderten Leitlinien standen am Vormittag im Mittelpunkt. Rund 250 Gäste lauschten den Referenten.

Vor eineinhalb Jahren begannen die Planungen für das große AMSEL-Symposium "Multiple Sklerose 2022" gemeinsam mit Ursula Späth und anlässlich von 40 Jahren Schirmherrschaft. Ursula Späth konnte "ihr" Symposium nicht mehr miterleben: Sie starb im Juni 2022 (hier ein Nachruf). Dass das Symposium dennoch stattfand, ist ganz in ihrem Sinne, denn Ursula Späth wusste darum, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Multipler Sklerose gut informiert sind, wie wichtig es auch ist, Betroffene miteinander, mit den Größen aus Politik, Wirtschaft und natürlich auch der Medizin zusammenzubringen, um sich auszutauschen.

Symposium Multiple Sklerose 2022 - Aktuelle und zukünftige Entwicklungen

Aktuelle und zukünftige Entwicklungen bei MS standen im Fokus des Symposiums anlässlich 40 Jahre Schirmherrschaft Ursula Späth.

All dies geschieht auf einem AMSEL-Symposium. Der Freitagabend, 23. September, galt einem Rückblick auf die MS im Wandel der Zeit (amsel.de hat berichtet). Das "Who is Who" der deutschen [und schweizerischen] MS und Neurologie, so Prof. Peter Flachenecker, Arzt im Vorstand der AMSEL, konnte die AMSEL für ihr großes Symposium "Multiple Sklerose 2022: Aktuelle und zukünftige Entwicklungen" tags darauf gewinnen. Nacheinander auf dem Podium standen an diesem Samstag, 24. September:

  • Prof. Ralf Gold aus Bochum,
  • Prof. Ralf Linker aus Regensburg,
  • Prof. Bernhard Hemmer aus München,
  • Prof. Judith Haas aus Berlin,
  • Prof. Aiden Haghikia aus Magdeburg und
  • Prof. Jürg Kesselring aus Bad Ragaz.

Insgesamt 5 Vorträge und 6 Referenten und eine Abschlussdiskussion, das bedeutete geballte Fakten zu dem, was ist, und dem, was noch kommt in der MS. Dank der geübten Redner und hochkarätigen Moderatoren – Prof. Klaus V. Toyka und Prof. Peter Flachenecker – bedeutet dies aber auch: gute Unterhaltung bei all der Faktenfülle und die eine oder andere Pointe, um die wissenschaftlich ernsten und wichtigen Themen an diesem prall gefüllten Symposiumstag aufzulockern. – Hier zu den Vorträgen am Vormittag:

Prof. Dr. med. Ralf Gold

(Noch) keine scharfen Schwerter gegen progrediente MS, EBV

"Es ist nicht mehr die MS, die ich vor über 30 Jahren kennengelernt habe, mit all ihren Schrecken", bekennt Professor Ralf Gold gleich zu Beginn seines Vortrags „Neue Therapieansätze bei progredienter MS – BTKi, mRNA-Impfung und Co.“ Nach wie vor gelte, wem Interferone reichten, der brauche auch nicht mehr. Das betrifft die schubförmige MS.

Bei einer progredienten MS mit aufgesetzten Schüben fällt die Behandlung nicht so schwer. Bei einer schubfreien progredienten MS hingegen stehen nur Ocrelizumab und Siponimod zur Verfügung. „Auch das sind im Moment keine scharfen Schwerter“, räumt der Neuroimmunologe aus Bochum ein. Im progredienten Stadium ist die Hirnrinde [die graue, teils recht dünne Substanz um Groß- und Kleinhirn herum, auch als "Kortex" bezeichnet] statt des Marklagers [die weiße Substanz im Innern des Gehirns] betroffen. Und das ist „unser besonderer Feind“.

Eine gute Idee, jedoch eher desillusionierend: Das Epstein-Barr-Virus ist zwar ein immer deutlicheres Ziel im Kampf gegen MS (amsel.de hatte mehrfach über neuere Forschungen zu EBV berichtet). Eine Impfung gegen EBV sei jedoch für alle Infizierten zu spät, denn die Impfung könne ja nicht alle Körperzellen angreifen, die von EBV betroffen sind. Man müsste also, so es eine solche Impfung eines Tages gibt, bereits Kinder impfen. Ein Gast fragte hierzu, er verstehe nicht, warum EBV nur bei manchen MS auslöse; schließlich seien doch die meisten Erwachsenen EBV-infiziert. Gold antwortete, dass bei MS-Patienten 100 % eine Infektion mit EBV durchgemacht hätten (im Unterschied zu über 90 % in der gesamten Bevölkerung). Ihre genetische Disposition ist die eine, EBV eine weitere Ursache für MS. EBV bringe bei genetisch vorgeprägten Menschen sozusagen "das Fass zum Überlaufen". Es beginne eine chronische Kreuzreaktion.

BTKi: Schutz der Myelinscheiden?

Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren, kurz: BTKi, könnten die nächste gegen Multiple Sklerose zugelassene Wirkstoffklasse ausmachen. Fünf Firmen erproben derzeit diese Wirkstoffe gegen MS, was auch zeigt, wie interessant sie bei MS sein müssen. Die Ergebnisse bei schubförmiger MS werden – naturgemäß, da sie rascher beurteilt werden können – zuerst erwartet. Evobrutinib und Tolebrutinib könnten bereits 2025 zugelassen werden, weitere folgen dann ab 2026.

Besonders an diesen Wirkstoffen ist ihre rasche Bindung (und Hemmung) des Enzyms Bruton-Tyrosinkinase und ihr ebenso rascher Rückgang innerhalb weniger Tage nach Absetzen. Im Unterschied zu anderen MS-Wirkstoffen führen BTKi nicht zur Depletion der B-Zellen, sondern sie modellieren diese nur. Nach sieben Tagen ist der Wirkstoff abgebaut und die Zellen können sich neu bilden. BTKi werden ein bis zweimal täglich als Tablette eingenommen.

Tolebrutinib, welches Gold hier stellvertretend für die BTKi vorstellte, weil es dazu kurz vor dem Symposium neue Daten gab, dringt nachweislich ins ZNS ein und wirkt dort direkt auf die Mikrogliazellen im Kortex. Die Läsionslast wird mit über 90 % ähnlich stark verringert wie bei Ozanimod, Ponesimod oder Siponimod. Im Modell zeigte sich, dass es Demyelinisierung verhindern kann und ebenso den Verlust von Oligodendrozyten.

Stichwort schwere Nebenwirkungen: Auch in der höchsten Studiendosierung von 60 mg lagen nur 2 Fälle von stark erhöhten Leberwerten vor, die allerdings noch nicht verstanden seien. Die "Brutinibs" kommen aus der Krebsbehandlung (z.B. Lymphome). Das Verdienst der Neurologie sei es, so Gold, sie "ZNS-gängig" gemacht zu haben und somit bei MS einsetzen zu können.

Großer Wermutstropfen an den positiven Nachrichten zu dieser Substanz: Diese Ergebnisse gelten zunächst nur für die schubförmige Phase. "Wir brauchen sie aber eigentlich für die progrediente Phase", betont Gold. Und er mahnt hier zugleich etwas zur Vorsicht, was überschwängliche Hoffnungen betrifft, denn die Mikroglia – und um deren Aktivierung geht es in der Behandlung – hätten "zwei Gesichter": ein neuroprotektives und ein inflammatorisches (also entzündliches). Das zeigte sich an Tiermodellen. Nicht ganz ausgeschlossen, dass die Mikroglia unter den "Brutinibs" in der progredienten MS ihr hässliches, entzündungsförderndes Gesicht zeigten. "Ich hoffe, dass wir das nicht sehen bei der menschlichen Gabe", so Gold. Umso mehr gelte es, die MS so früh wie möglich zu behandeln (mit den hauptsächlich gegen die Entzündungen in der früheren Phase wirkenden Mitteln), um eine Progredienz so weit als möglich hinauszuzögern, schloss der Bochumer Klinikdirektor.

Prof. Dr. med. Ralf Linker

MS (Diagnose) im Alter

Tatsächlich wird die Diagnose MS auch in immer höherem Lebensalter gestellt, zitiert Prof. Ralf Linker eingangs eine italienische Beobachtungsstudie. Das mag mit Diagnosekriterien und -möglichkeiten zusammenhängen. Neben der medizinischen Bedeutung hat MS in höherem Alter auch eine soziale Bedeutung: So steigt das Risiko für einen längeren Einkommensverlust und damit die Notwendigkeit, verrentet zu werden (Bsp. Dänemark) anders an (und startet höher) als bei Nicht-Erkrankten.

Mit am wichtigsten für MS-Patienten mag aber die Frage nach der MS-Therapie im Alter sein. Unser aller Immunsystem arbeitet schlechter mit wachsendem Alter, es gibt z.B. weniger naive T-Zellen. "Das sind die, die sich noch entscheiden können: Geh' ich jetzt ins Gehirn oder nicht?", erläutert Linker diese Zellpopulation anschaulich anhand aktuellster Daten (Zuroff et al., 2022). Auch mehr freie Radikale kennzeichnen ein Immunsystem Ü60 gegenüber einem von Mitte 20. Mit dem Biomarker Serum-Neurofilamente (sNfL) lässt sich (bisher nur innerhalb der Forschung angewendet) die Neurodegeneration messen. Sie findet bei allen statt; bei MS-Patienten jedoch schneller.

Abwägen, kontrollieren, impfen

Das bedeutet, dass MS-Therapien schlechter wirken können und gleichzeitig das Risiko für Infektionen aber auch Krebs steigt. Beispiel Tecfidera anhand einer dänischen Studie aus diesem Jahr (Ravn et al., MSRD, 2022): Hier haben bis 25-Jährige ein Lymphopenie-Risiko von ca. 0,5 %, MS-Patienten von 55 und mehr Jahren ein deutlich erhöhtes von 3 bis 4 %. Eine Lymphopenie, also laienhaft ausgedrückt "zu wenig von bestimmten weißen Blutkörperchen", geht mit einer erhöhten Infektanfälligkeit einher. Was bei einzelnen Therapieentscheidungen immer ein Abwägen auch des altersabhängigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses bedeutet, evtl. weitere Erkrankungen und Medikamente müssen mit einbezogen werden, sorgfältige Kontrollen eingeschlossen, und eventuell ein Therapiewechsel angedacht werden.

Wegen des nachlassenden Immunsystems im Alter ist es gerade für MS-Betroffene wichtig, sich impfen zu lassen, nicht nur gegen Corona, sondern zum Beispiel auch gegen Gürtelrose, so der Regensburger Neurologe. Die Bedeutung der symptomatischen Therapie wächst im Alter. Es gibt keine Altersgrenze, bis wann eine Immuntherapie genommen werden kann und – auf eine Frage aus dem Publikum hin – die Kassen müssen eine Immuntherapie selbstverständlich übernehmen, wenn ein Arzt sie verordnet, unabhängig vom Alter.

Prof. Dr. med. Bernhard Hemmer

MS-Leitlinie - aus ärztlicher Sicht

Was Leitlinien ausmacht, fasst Prof. Dr. med. Bernhard Hemmer zusammen (er war krankheitsbedingt nur online zugeschaltet). Leitlinien sollen Arzt und Patient die Entscheidungsfindung erleichtern. Ein unabhängiges Entwicklergremium erstellt sie mithilfe aussagekräftiger aktueller Studienergebnisse und passt sie an. Keine Multiple Sklerose ist gleich, im Gegenteil zeigt sich ein sehr breites Spektrum an Krankheitsfortschritt und so geht es bei der Strategie immer um ein "Treat to Target", also

so früh wie möglich

   so viel wie nötig und

      so wenig wie möglich

an Therapie für den individuellen Patienten.

Neu in den Leitlinien ist die Aufnahme des Therapiestopps bei den Empfehlungen zur Immuntherapie, also Kriterien dafür, in welchen Situationen eine Therapie zu beenden (und ggf. auch wieder zu beginnen) wäre. Die Kriterien für eine hochaktive MS bei neuen Patienten (und damit deren Therapiemöglichkeiten) wurden ebenfalls angepasst. Hinzu zu bereits bestehenden Kriterien (schwere Erholung vom ersten / zweiten Schub...) kam folgender MRT-Befund zum Zeitpunkt der Diagnose: 2 oder mehr Gadolinium-aufnehmende Läsionen und eine hohe Läsionslast mit besonderer Wichtung spinaler (im Rückenmark) oder infratentorieller (in der hinteren Schädelgrube liegende) Läsionen.

Das MRT-Monitoring sollte standardisiert stattfinden, von in der Neurologie kompetenten Radiologen, um optimale Voraussetzungen zu haben, jegliche Krankheitsaktivität zu erkennen, betonen Hemmer und auch Prof. Klaus V. Toyka, der durch das Symposium moderierte.

Nicht zu vernachlässigen, so der Neurologe aus Regensburg, seien aber auch die allgemeinen Maßnahmen zu Verlaufsmodifikation, wie

  • Rauchen aufzuhören,
  • Gewicht zu reduzieren,
  • sich körperlich wie geistig zu bewegen,
  • ggf. Vitamin D zu substituieren (idR max. 20.000 Einheiten je Woche bei Vit-D-Mangel),
  • andere Erkrankungen wie etwa Diabetes frühzeitig zu behandeln und auch
  • die Krankheitsbewältigung, die Patienten dazu befähigt, ihr Leben trotz und mit MS aktiv zu leben.

Wichtig sind insbesondere die Kriterien für hochaktive MS (und damit auch für den frühen Einsatz hochaktiver Substanzen bei diesen Patienten) sowie konkrete Empfehlungen zu Eskalation und Deeskalation.

Prof. Dr. med. Judith Haas

Aus Patientensicht sehen die Leitlinien der MS, auch in der Patientenversion, oft anders aus. Vor allem, weil keine noch so gute MS-Leitlinie die individuelle Situation eines Patienten abbilden kann. Vorab ist wichtig zu wissen, dass die Leitlinien zwar nicht bindend sind, neuere Individualverträge der Kassen die Orientierung an den Leitlinien jedoch belohnen, um Kosten zu senken. Das sähen sie mit Sorge, so Prof. Haas, Vorsitzende des DMSG Bundesverbandes.

Der Patient als Experte in eigener Sache: nicht jeder will das

Ein weiteres Problem bei der Erstellung von Leitlinien genauso wie von Patientenhandbüchern sei aber auch der sehr individuell unterschiedliche Informationsbedarf der Patienten. Ebenso unterschiedlich ist die Einstellung der Patienten zu verschiedenen Untersuchungsmethoden. Gegen ein MRT sprechen oft Platzangst oder, dass es zu lange dauere, weil zum Beispiel für ein spinales MRT mehrere Untersuchungstermine nötig sind. Letzteres zu ändern: darüber ist man weiter mit den Kassen im Gespräch.

Haas führte weitere typische Aussagen von MS Patienten auf, die mitunter Einfluss auf die Therapie haben können, wie zum Beispiel: "Warum eigentlich Cortison, ein Schub bildet sich ja auch so zurück?", "Ich kann nicht spritzen." oder "Es geht mir wieder gut, ich möchte abwarten." Ähnlich sieht es aus mit dem MRT-Verlauf. Hier hören Ärzte immer wieder, dass Patienten es als belastend empfinden, wenn das MRT neue Läsionen zeigt, obwohl sie sich stabil fühlen.

Eine Therapieentscheidung verlangt allerdings vom Patienten auch viel Einsatz ab: Immerhin sind in der Leitlinie allein für die Immunmodulation 21 Präparate genannt. Und das zeigt abermals, wie wichtig das Gespräch mit dem Arzt ist, also gerade der Posten, der aufgrund der Ökonomie immer häufiger zu kurz kommt. Multiple Sklerose verlangt aber viel Aufklärung, viel Vertrauensarbeit, nicht nur bei der Diagnose, sondern auch im Verlauf – und das braucht schlicht und ergreifend Zeit. Denn selbstredend spielt es für eine Therapieentscheidung eine große Rolle, ob das MRT MS-Aktivität zeigt. Nur wenn man davon weiß, kann man eingreifen und sich so Fähigkeiten und Lebensqualität in Beruf und Freizeit bewahren.

Einig waren sich Referenten wie Publikum über den zu bedauernden Fachärztemangel und die Kommerzialisierung der Medizin: Unterm Strich bleibt weniger Zeit für den Patienten, was gerade bei einer chronischen Erkrankung wie der MS die nötige Vertrauensbildung zwischen Arzt und Patient stört. Hier ist die Politik gefragt, einzugreifen, denn die Missstände und Versäumnisse, die heute entstehen, werden sich summieren und in der näheren Zukunft noch deutlicher zu spüren sein.

Satt an Fakten

Nach so vielen, dicht gepackten Informationen waren Referenten wie Publikum erst mal satt an Fakten. Weiter ging es nach einer gemeinsamen Mittagspause, die viele freilich auch dazu nutzten, mit den Experten ins Gespräch zu kommen.

Auch am Nachmittag des Symposiums "Multiple Sklerose 2022" folgten interessante Vorträge: Prof. Aiden Haghikia sprach über "Ernährung bei MS: Mikrobiom, Propionsäure etc., Prof. Jürg Kesselring zur unverzichtbaren und effektiven "Rehabilitation bei MS" und in der Abschlussdiskussion sprachen die Referenten über "Multiple Sklerose morgen - was bringen die nächsten 40 Jahre?". Hier unser Bericht.

Mit freundlicher Unterstützung durch:

sowie der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH

Redaktion: AMSEL e.V., 29.09.2022