Auch der Nachmittag des Symposiums "Multiple Sklerose 2022" bannte das Publikum. Rund 250 Gäste erlebten weitere drei Programmpunkte: Prof. Aiden Haghikia sprach über "Ernährung bei MS: Mikrobiom, Propionsäure etc.", Prof. Jürg Kesselring zur unverzichtbaren und effektiven "Rehabilitation bei MS" und in der Abschlussdiskussion debattierten die Referenten über "Multiple Sklerose morgen – was bringen die nächsten 40 Jahre?"
Symposium Multiple Sklerose 2022 - Aktuelle und zukünftige Entwicklungen
Aktuelle und zukünftige Entwicklungen bei MS standen im Fokus des Symposiums anlässlich 40 Jahre Schirmherrschaft Ursula Späth.
Prof. Aiden Haghikia
Lifestyle-Faktoren: Da lässt sich was ändern
Ein Drittel Gene, zwei Drittel Umwelt: So etwa verteilen sich die Ursachen für einige neurodegenerative Systemerkrankungen wie Parkinson, Demenz und Multiple Sklerose, darin sind sich die meisten Wissenschaftler heute einig, so Prof. Aiden Haghikia aus Magdeburg. An den Genen lässt sich nichts rütteln, auch nicht an einigen Umweltfaktoren wie z.B. Viren (EBV und humanes Herpesvirus). Sehr wohl aber an den Lifestylefaktoren, zum Beispiel
- Rauchen
- Alkohol oder
- Ernährung.
Oft hört man: "Habe nie geraucht und dennoch MS bekommen." Das trifft vermutlich auf die meisten MS-Erkrankten zu. Rauchen ist ja auch nur einer von vielen Faktoren. In Studien hat sich jedenfalls gezeigt, dass Rauchen das MS-Risiko speziell im Zusammenhang mit dem Gen HLA-DRB 1*15 vervielfacht. Gerade jüngere MS-Betroffene könnten von einem Rauch-Stopp auch in Punkto MS-Fortschritt profitieren.
Ernährung: bei MS keine Nebensache
Fette bzw. Fettsäuren spielen eine große Rolle bei Multipler Sklerose. Bereits 1952 zeigte eine skandinavische Studie, dass das MS-Risiko von der Küste hin ins Landesinnere anstieg. Die damals gewagte Theorie: Der geringere Fischkonsum sei schuld. Inzwischen weiß man: Da ist was dran. Bei allem Bewusstsein über den Einfluss der Ernährung auf die MS, so Haghikia, müsse man jedoch vor einseitigen Diäten, für die auch immer wieder geworben werde, warnen.
Diverse Studien hätten aber gezeigt, dass eine vornehmlich vegetarische Kost mit wenig Fleisch, wenig Fett, wenig Kohlenhydraten und wenig Zucker sich positiv auswirke, sowohl motorisch als auch nicht-motorisch. Möglich macht dies unter anderem die erst kürzlich entdeckte Darm-Hirn-Achse (es wandern nämlich wirklich Immunzellen aus dem Darm bis ins ZNS).
Ein klares "Ja" zur Propionsäure als Add-On
Fett ist nicht gleich Fett. "Ungesunde Fette" spielen bei vielen Erkrankungen, etwa Arteriosklerose und einigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine wichtige Rolle. "Hohes Cholesterin" kennt jeder. Tatsächlich fördern kurzkettige Fettsäuren die guten regulatorischen Zellen in uns, langkettige hingegen die entzündlichen Zellen. Bei MS ist es vor allem eine kurzkettige Fettsäure, die gewissermaßen zu kurz kommt, wie erst 2020 in einer Studie zu sehen war: die Propionsäure.
Doch was ist Henne, was ist Ei? Verursacht eine MS nur als Nebeneffekt, dass weniger Propionsäure im Körper ist, oder verstärkt ein Mangel an Propionsäure die MS? Tatsächlich ist auch das Mikrobiom von MS-Patienten anders zusammengesetzt als das von Gesunden. Als pragmatische denkende Ärzte, so Haghikia, hätten u.a. Prof. Gold, Prof. Linker und er vor einigen Jahren gedacht: Der Mangel lässt sich einfach rückgängig machen. Propionsäure ist im Handel erhältlich, wurde früher sogar Brot beigefügt, also: einen Versuch wert. Kurzerhand starteten die Forscher einen Selbstversuch (Haghikia nimmt bis heute zweimal täglich 500 mg Propionsäure zu sich) und testeten die Fettsäure in einer nicht randomisierten Studie an MS-Patienten.
Die Ergebnisse waren durchaus positiv. Nach einer Einnahme über 1,5- 2 Jahre hinweg war in der Propionsäure-Gruppe die Schubrate gegenüber dem Zeitraum vor Propionsäure-Einnahme deutlich reduziert (0,1 statt 0,2 Schübe, was auch zeigt, dass die Patienten immunmodulatorisch bereits gut eingestellt waren), die Behinderungsprogression um 20 % reduziert, gemessen an einer gematchten Gruppe, und der EDSS-Wert gesunken. Im MRT zeigte sich sogar, dass die Atrophie rückgängig war; es gab eine Zunahme des Gehirnvolumens (typisch für MS ist eigentlich eine verstärkte Hirnatrophie, also Abnahme des Hirngewebes bei gleichzeitiger Zunahme der flüssigkeitsgefüllten Ventrikeln im Innern des Gehirns).
Eine groß angelegte Studie mit 2.000 Patienten sei eher nicht finanzierbar, so Haghikia, (und Propionsäure würde dann womöglich als zugelassenes Medikament deutlich teurer) doch die Ergebnisse, die sie unerwarteterweise gesehen hätten, seien so überzeugend, was sich auch auf Zellebene zeigte, u.a. durch einen Versuch mit Nervenzellen aus dem Urin von Parkinsonpatienten, die sich mit Propionsäure nach einer Chemotherapie deutlich besser erholten als ohne, dass sie Propionsäure als Nahrungsergänzung für MS-Patienten ganz klar empfehlen könnten. Die Einnahme der täglich 1.000 mg (nicht mehr) sei völlig frei, so Haghikia auf eine Zuschauerfrage hin, ob nun als 2-Mal-Dosis oder auf einmal, ob morgens, mittags oder abends, Hauptsache, es handele sich um reines Propionat. Nach ca. 14 Wochen ist ein ausgeglichener Propionsäurelevel erreicht. Die durch die Einnahme erhöhten Werte würden nach Absetzen sieben bis acht Wochen anhalten, danach gingen sie wieder zurück. Übrigens: Propionsäure kommt auch in Nahrungsmitteln vor, zum Beispiel im Emmentaler Käse.
Wichtig auch: Vor lauter Studien und Beweisen für eine ausgewogene Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel wie Propionsäure: Nicht statt, sondern zusammen mit der passenden Immunmodulation lautet die Devise. Zum einen ist der Einfluss der Lifestyle-Änderungen nicht sehr groß, zum anderen will man ja die Vorteile addieren. Darum also: nur als Add-On. Die Hoffnung bleibt allerdings, dass diese Add-Ons uns künftig dabei helfen, die Immunmodulation in ihrer Dosis zu reduzieren.
Prof. Jürg Kesselring
Neue Synapsen knüpfen in der Reha
Nicht zu unterschätzen bei der Behandlung der MS ist die Rehabilitation. Reha heißt: Trotz MS mache ich etwas. "Mach, was Du kannst, wo Du bist, so gut wie Du es kannst," fasst Prof. Jürg Kesselring Reha zusammen und definiert Trotz-Haltung neu: Ich habe MS und trotzdem kann ich einiges machen. In einer Reha soll der Zustand der Patienten und das Potenzial erfasst werden, woraus man etwas machen kann. Das Augenmerk sollte man auf das richten, was geht, nicht auf das, was nicht geht. Was auch bedeutet: Die Trainingsziele danach abzustimmen, was man kann. Realistische Ziele setzen.
Reha ist keine passive, sondern eine aktive Therapie. Inaktivität sei toxisch, so der Schweizer Kesselring – physisch wie mental. Es sei nicht der Arzt oder Therapeut, der dem Patienten in der Reha „aufhelfen“ soll, der Patienten selbst muss etwas tun. Die Musik komme schließlich auch nicht vom Cello, sondern es sei der Musiker, der die Musik erzeuge.
Neurorehabilitation sei angewandte Resilienz: Mit der Neurorehabilitation werden aufbauende Kräfte gefördert, um wieder die ursprüngliche oder eine neue stabile Form/ Position einzunehmen. Grundlage ist die Neuroplastizität. Das Gehirn ist in der Lage, bestimmte Störungen zu kompensieren, sich veränderten Bedingungen anzupassen, sich zu reorganisieren. Synapsen können immer wieder neu geknüpft werden, wodurch Fähigkeiten oder Funktionen (neu bzw. wieder) erlernt werden können. Daher sei es fundamental, aktiv zu bleiben – auch nach einer Reha.
Kesselrings Credo lautet: auf das TEAM kommt es an. “Together Everyone Achieves More“, also zum einen: Was können wir gemeinsam schaffen (Arzt-Therapeuten-Pfleger-Angehörige-Patient)? Zum andern aber auch: sich mit Menschen zu umgeben, die einem gut tun/ einen aufbauen und nicht runterziehen.
Laut Gesetz muss eine Reha wirksam, zweckmäßig, wirtschaftlich sein. Und die Wirksamkeit muss wissenschaftlich belegt sein. Doch Zahlen sind nicht alles und sagen auch nicht alles – die EDSS, die Skala also, mit der man die Behinderungsprogression bei MS-Erkrankten misst, zeigt bspw. nur die Gehfähigkeit an, nicht aber unsere Tätigkeiten/ Fähigkeiten im Alltag (und der Freizeit) wie zum Beispiel: ein Hemd zuknöpfen, ein Essen kochen, einen längeren Text konzentriert lesen oder auch Cello spielen.
Abschlussdiskussion: Multiple Sklerose morgen
Was bringen die nächsten 40 Jahre?
Es hat sich verdammt viel getan in den vergangenen 40 Jahren MS-Geschichte und MS-Therapie – das zeigte das AMSEL-Symposium Multiple Sklerose 2022 deutlich. Was die kommenden vier Jahrzehnte bringen könnten oder sollten, welche Hürden zu nehmen sind, darüber unterhielten sich die Referenten in einer Abschlussdiskussion.
Einig sind sich Prof. Judith Haas, Prof. Jürg Kesselring, Prof. Ralf Linker und Moderator Prof. Peter Flachenecker, dass sie sich einen deutlichen Fortschritt für die progrediente MS wünschen, auch auf das EB-Virus setzen die Wissenschaftler ihre Hoffnungen. Doch selbst wenn man die MS ausrotten könnte wie einst Polio (solange weiter flächendeckend geimpft wird), gäbe es weiterhin bereits Erkrankte. Eine noch besser individuell auf den Patienten abgestimmte Therapie sehen die Ärzte als Auftrag seitens der Patienten.
Mehr Fortschritt bei progredienter MS
Die besten Therapien und die besten Reha-Konzepte allerdings bringen wenig, wenn Fachkräfte fehlen, denn Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte lassen sich nicht "schnitzen", so Prof. Peter Flachenecker. Die bestmögliche Versorgung ist ein Anliegen nicht zuletzt von Verbänden wie der AMSEL. Hier gibt es weiter viel zu tun.
Diagnostisch sind Neurofilamente und Optische Kohärenztomografie (OCT) interessant, können das MRT in seiner diagnostischen Breite nicht ersetzen, es jedoch ergänzen. In den nächsten fünf Jahren erwartet Prof. Ralf Linker bei den Neurofilamenten eine starke Entwicklung hin zur Praxis. Ein Hauptproblem könnte mal wieder sein, so Prof. Haas, dass es dauere, bis der Kostenträger dafür eine (Abrechnungs-) Ziffer einrichtet.
Training, Training, Training
Als Messung in der Reha sieht Prof. Kesselring solche Messmethoden als zweitrangig, denn hier könne man ja den Patienten selbst anschauen, welche Auswirkungen sich bei ihm konkret zeigen und das bilden Bilder und Zahlen nicht ab. Für die Grundlagenforschung sei es jedoch sehr interessant. Ähnlich verhält es sich mit hochauflösenden speziellen Bildgebungen, so Linker. Die seien aufgrund der schieren Datenmenge für die Praxis nicht relevant, wohl aber für die Forschung.
Progrediente MS und Neurodegeneration: Kesselring sieht das Training hier als wichtigen und oft unterschätzten Faktor. Haghikia stimmt zu: Training sei wichtig und dazu, mit den bekannten Mitteln, die Entzündung aufzuhalten. Was die BTKi für die progrediente MS bringen werden, lässt sich von heute aus noch nicht beurteilen, so Linker. Man habe doch aber schon etwas in der Hand mit:
- Training,
- Reha,
- Physiotherapie und
- Nahrungsergänzung
Wachstumsfaktoren würden durch Training gefördert. Der Körper selbst produziert sie, wenn man ihn dazu anregt. Er bevorzuge diese Methode gegenüber dem künstlichen Zufügen der Faktoren, betont Prof. Kesselring abschließend.
So ging der informativ angefüllte Tag zwei des AMSEL Symposiums zu Ende. Gäste wie Referenten zeigten sich hochzufrieden über den Austausch, zumal nach zwei Jahren Pause durch die Pandemie.
Am Vormittag des Sympsoiums standen neue Therapiekonzepte (z.B. BTKi) mit Prof. Ralf Gold, die Leitlinien mit Prof. Judith Haas und Prof. Bernhard Hemmer sowie MS im Alter mit Prof. Ralf Linker auf dem Programm. Hier der amsel.de-Bericht.
Mit freundlicher Unterstützung durch:
sowie der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH
Redaktion: AMSEL e.V., 05.10.2022