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Wenn eine MS nicht die einzige Erkrankung ist: Komorbiditäten im Überblick

Eine Multiple Sklerose schützt leider nicht vor zusätzlichen anderen Erkrankungen, sogenannten Komorbiditäten. Komorbiditäten können den Verlauf der MS ungünstig beeinflussen und umgekehrt. Ihre Erkennung und Behandlung kann deshalb sehr wichtig sein. Prof. Dr. med. Mathias Buttmann und Dr. med. Waldemar Kafke, beide in der Klinik für Neurologie am Caritas-Krankenhaus Bad Mergentheim tätig, klären auf.

Die MS gilt als „Erkrankung der tausend Gesichter“, weil sie bei jedem einzelnen Menschen anders verläuft und zumindest theoretisch eine Vielzahl unterschiedlicher Beschwerden verursachen kann. Das heißt aber leider natürlich nicht, dass man mit einer MS vor anderen, zusätzlichen Erkrankungen geschützt ist. Solche anderen Erkrankungen nennt man Komorbiditäten – eine unangenehme Art von GeMeinSam. Komorbiditäten können sich auf die Lebensqualität, den Zeitpunkt der Diagnosestellung der MS, deren Verlauf, die Prognose und auch die Behandlung der MS auswirken. Umgekehrt können medikamentöse Therapien der MS Auswirkungen auf Komorbiditäten haben. Zu den häufigsten und wichtigsten Komorbiditäten bei MS zählen psychische Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das sind Erkrankungen, die auch bei Menschen ohne MS sehr häufig sind. Im folgenden Artikel stellen wir die wichtigsten Komorbiditäten und deren Auswirkungen auf die Diagnosestellung, den Verlauf, die Prognose und Therapie der MS vor.

Nicht immer zu unterscheiden: Komorbiditäten und Komplikationen

Komorbiditäten sind etwas anderes als chronische Symptome der MS und deren Komplikationen (1). Unter Komplikationen versteht man die unmittelbaren Folgen von MS-bedingten Symptomen. Ein Beispiel wären chronische MS-bedingte Blasenstörungen (Symptom), die zu einer Häufung von Harnwegsinfekten (Komplikation) führen. Komorbiditäten wiederum sind chronische Erkrankungen, die nicht direkt durch die MS verursacht werden. Hierzu gehören beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie ein Bluthochdruck. Manchmal kann es schwierig oder gar unmöglich sein, zwischen Komplikationen der MS und Komorbiditäten zu unterscheiden, da die Ursachen einer Gesundheitsstörung nicht immer eindeutig sind (2). Kommt etwas durch die MS oder nicht? Psychische Erkrankungen sind ein offensichtliches Beispiel, warum diese Unterscheidung sehr schwierig sein kann. So wurden beispielsweise Zusammenhänge zwischen bestimmten strukturellen Hirnveränderungen und Depressionen bei Menschen mit MS diskutiert (3), die dann eine Komplikation der MS wären. Außerdem kann eine MS eine seelische Belastung darstellen, die als Komplikation eine depressive Verstimmung auslösen kann. Andererseits können auch von der MS völlig unabhängige Belastungsfaktoren bei entsprechender Veranlagung eine Depression auslösen. In diesem Fall würde man von einer Komorbidität sprechen.

Welche Komorbiditäten sind bei MS am häufigsten?

Die häufigsten Komorbiditäten bei Menschen mit MS sind in absteigender Häufigkeit

  • Depressionen (bei einem von vier),
  • Angsterkrankungen und Bluthochdruck (bei  jeweils einem von fünf) sowie
  • erhöhte Blutfette und chronische Lungenerkrankungen (bei jeweils einem von zehn) (4).
  • Seltener – aber ebenfalls relevant – sind Schlaganfälle,
  • Epilepsie,
  • andere Autoimmunerkrankungen, z.B. eine Schilddrüsenstörung, und nicht zuletzt
  • Schmerzerkrankungen, wie z.B. die Trigeminusneuralgie oder die Migräne.

Diese Aufzählung sollte aber keine Angst machen, da es sich durch die Bank um häufige Erkrankungen handelt, die jeden treffen können, egal ob mit MS oder ohne. Einige von ihnen treten bei der MS lediglich etwas häufiger auf als in der Gesamtbevölkerung (5) und die meisten sind gut behandelbar.

Es kommt also in einem ersten Schritt vor allem auf die Erkennung von Komorbiditäten an. Psychische Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen als häufigste Komorbiditäten bei MS können bereits vor oder bereits zum Zeitpunkt der MS-Diagnosestellung bestehen (6). Wenig verwunderlich erscheint außerdem, dass mit Zunahme des Lebensalters auch die Herz-Kreislauf-Erkrankungen an Häufigkeit zunehmen (7). Vielleicht weniger selbstverständlich und jedenfalls positiv ist, dass die Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei MS mit dem Lebensalter nicht zuzunehmen scheint (8).

Welchen Einfluss haben Komorbiditäten auf die MS und deren Behandlung?

Komorbiditäten können sich negativ auf die Lebensumstände und die Lebensqualität von Menschen mit MS auswirken, denken wir z.B. an eine zusätzliche Migräne (9). Zudem belegen Daten, dass durch Komorbiditäten die Diagnosestellung der MS verzögert werden kann (10, 11). Das gilt besonders für junge Menschen unter 25 Jahren (10) und Menschen mit Gefäßrisikofaktoren, während psychische Begleiterkrankungen auf den Zeitpunkt der Diagnosestellung keinen Einfluss zu haben scheinen (11).

Als Konsequenz einer verspäteten MS-Diagnosestellung kann sich die Einleitung einer MS-Therapie verzögern (12). Es liegt nahe anzunehmen, dass durch Begleiterkrankungen möglicherweise MS-Symptome für die Betroffenen und deren Ärzte schwerer erkennbar werden und damit notwendige diagnostische Schritte oder die Überweisung zu einem Spezialisten unterbleiben. Umgekehrt finden sich in der Literatur keine Hinweise, dass bestimmte Begleiterkrankungen eine frühere Diagnosestellung der MS begünstigen (11).

Abgesehen von einer möglicherweise verzögerten Diagnosestellung der MS können sich Komorbiditäten auch direkt ungünstig auf den Verlauf einer MS auswirken. Durch Komorbiditäten haben Menschen mit MS statistisch ein höheres Risiko für Schübe und – insbesondere bei Vorliegen von Gefäßerkrankungen – ein höheres Risiko für eine Zunahme körperlicher Einschränkungen (9, 13). So verkürzte sich bei Vorliegen mindestens einer Gefäßerkrankung bei MS-Erstdiagnose statistisch die mittlere Zeit, bis jemand im statistischen Durchschnitt eine Gehhilfe brauchte, um sechs Jahre von 18 auf zwölf Jahre im Vergleich zu einer Person mit MS ohne eine Gefäßerkrankung (13). Das ist aber nur eine Statistik. Viele Menschen mit MS, auch solche mit einer Gefäßerkrankung, werden nie eine Gehhilfe brauchen. Darüber hinaus können beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen – ebenso wie bei Menschen ohne MS – sogar die Lebenserwartung reduzieren und sollten deshalb unbedingt erkannt und ggf. behandelt werden (11).

Eine besondere Komorbidität: die Suchterkrankung Rauchen

Da Herz-Kreislauf-Erkrankungen den größten Einfluss auf den Verlauf und die Prognose der MS haben, möchten wir die Aufmerksamkeit an dieser Stelle auf das Rauchen lenken. Alle Raucher wissen, dass das Rauchen für die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen von hoher Bedeutung ist. Zudem ist Rauchen aber – aktiv wie passiv – nicht nur ein Risikofaktor für die Neuentstehung einer MS, sondern eindeutig auch für deren Voranschreiten bei bereits bestehender Erkrankung. Das haben voneinander unabhängige Studien in den letzten Jahren sehr klar bewiesen.

Rauchen hat einen deutlichen negativen Einfluss auf die MS. Deshalb sollten gerade auch Raucher mit MS alles daransetzen, ihre Suchterkrankung in den Griff zu bekommen und dafür nötigenfalls auch professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Der gesundheitliche Nutzen eines Rauchstopps ist vielfältig und groß, noch einmal mehr mit einer MS.

Wie werden Komorbiditäten bei MS behandelt?

Am wichtigsten ist zunächst einmal, dass Komorbiditäten erkannt werden, denn „ohne Diagnose keine Therapie“. So bleiben gut behandelbare Erkrankungen leider häufig unerkannt und damit auch unbehandelt. Das liegt unserer Erfahrung nach auch daran, dass manche Ärzte dazu neigen, bei Menschen mit MS zunächst einmal für jede Beschwerde eine Erklärung in der „Erkrankung der tausend Gesichter“ zu vermuten und nicht genügend über alternative Erklärungen nachzudenken.

Es ist wichtig, dass beispielsweise routinemäßig Blutdruckwerte gemessen und Blutfette bestimmt werden und bei Menschen mit Übergewicht Blutzuckermessungen stattfinden. Zudem sollte die Wahrnehmung für Symptome psychischer Erkrankungen bei Menschen mit MS, deren Umgebung und deren Ärzten geschärft werden (2). Die Behandlung der jeweiligen Begleiterkrankungen erfolgt dann entsprechend dem aktuellen wissenschaftlichen Stand, der sich in den Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften findet (16).

Therapien von Komorbiditäten können positive Einflüsse auf die MS und deren Symptome haben, aber auch das Gegenteil kann der Fall sein. Beispielsweise kann (muss aber nicht) eine Bluthochdruckbehandlung mit Betablockern bei Männern zu Erektionsstörungen führen (17) und somit evtl. vorbestehende Erektionsstörungen im Rahmen einer MS verstärken. Bei der Therapie von Komorbiditäten ist also die MS immer mitzubedenken.

Positiv kann das beispielsweise bedeuten, dass bestimmte Cholesterinsenker (Statine) (18), bestimmte Medikamente gegen Diabetes mellitus (z.B. Metformin oder Pioglitazon) (19) sowie bestimmte Antidepressiva (z.B. Fluoxetin) (20) evtl. auch schützende Effekte auf Krankheitsvorgänge im Rahmen der MS entfalten, wenn auch diese Wirkstoffe etablierte MS-Therapien sicherlich nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen können.

Umgekehrt können MS-Therapien Komorbiditäten verschlechtern. Beispielsweise können bei Therapie mit S1P-Rezeptormodulatoren (Wirkstoffnamen mit „-imod“ am Ende) oder mit Teriflunomid im Behandlungsverlauf die Blutdruckwerte steigen, wenn auch nur selten in behandlungsbedürftigem Ausmaß. Es wird deshalb empfohlen, während der Behandlungen mit diesen Wirkstoffen den Blutdruck regelmäßig zu messen (21). Interferon-beta-Präparate können beispielsweise eine Migräne verstärken (22). Alemtuzumab kann andere Autoimmunerkrankungen, wie Schilddrüsenerkrankungen und selten eine Blutplättchenarmut sowie sehr selten eine Nierenerkrankung, auslösen (21). Im Qualitätshandbuch des Kompetenznetzes Multiple Sklerose finden behandelnde Ärzte detaillierte Hinweise zu allen zugelassenen MS-Medikamenten, wie sich deren Risiken durch geeignete Kontrollen minimieren lassen.

Zusammenfassung Komorbiditäten

Komorbiditäten sind häufig bei MS. Sie können sich negativ auf die Lebensqualität, den Zeitpunkt der MS-Diagnosestellung und des Therapiebeginns sowie den Verlauf und damit auch die Prognose der MS auswirken. Zu den häufigsten und relevantesten Komorbiditäten bei MS zählen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Erkrankungen. Da diese häufig unerkannt und damit auch unbehandelt bleiben, empfiehlt es sich, durch Routineuntersuchungen Herz-Kreislauf-Erkrankungen früh zu erkennen oder durch eine gesunde Lebensweise (insbesondere Rauchverzicht, gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung) möglichst abzuwenden.

Auch sollte die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen bei Menschen mit MS allen Ärzten bewusst sein. Einmal diagnostiziert, sind Komorbiditäten oft gut behandelbar. Hierbei sollten wechselseitige negative wie positive Auswirkungen der Therapien von Komorbiditäten auf die MS und umgekehrt sorgfältig bedacht werden. MS und Komorbiditäten sollten immer geMeinSam betrachtet werden, um therapeutisch zu optimalen Lösungen zu gelangen, mit dem Ziel auch langfristig möglichst hoher Lebensqualität.

Lesetipp

Sabrina lässt sich nicht unterkriegen. Obwohl sie, neben der Multiplen Sklerose, noch vier weitere chronische Krankheiten hat – mehr über Sabrina im together-Porträt.

Quelle: together, 02.23

Quellenangaben:

1.        Ording AG, Sorensen HT. Concepts of comorbidities, multiple morbidities, complications, and their clinical epidemiologic analogs. Clin Epidemiol. 2013;5:199-203.

2.        Marrie RA. Comorbidity in multiple sclerosis: implications for patient care. Nat Rev Neurol. 2017;13(6):375-82.

3.        Feinstein A, O'Connor P, Akbar N, Moradzadeh L, Scott CJ, Lobaugh NJ. Diffusion tensor imaging abnormalities in depressed multiple sclerosis patients. Mult Scler. 2010;16(2):189-96.

4.        Marrie RA, Cohen J, Stuve O, Trojano M, Sorensen PS, Reingold S, et al. A systematic review of the incidence and prevalence of comorbidity in multiple sclerosis: overview. Mult Scler. 2015;21(3):263-81.

5.        Hauer L, Perneczky J, Sellner J. A global view of comorbidity in multiple sclerosis: a systematic review with a focus on regional differences, methodology, and clinical implications. J Neurol. 2021;268(11):4066-77.

6.        Marrie RA, Patten SB, Tremlett H, Wolfson C, Warren S, Svenson LW, et al. Sex differences in comorbidity at diagnosis of multiple sclerosis: A population-based study. Neurology. 2016;86(14):1279-86.

7.        Marrie RA, Yu BN, Leung S, Elliott L, Caetano P, Warren S, et al. Rising prevalence of vascular comorbidities in multiple sclerosis: validation of administrative definitions for diabetes, hypertension, and hyperlipidemia. Mult Scler. 2012;18(9):1310-9.

8.        Marrie RA, Fisk JD, Tremlett H, Wolfson C, Warren S, Tennakoon A, et al. Differences in the burden of psychiatric comorbidity in MS vs the general population. Neurology. 2015;85(22):1972-9.

9.        Marck CH, Neate SL, Taylor KL, Weiland TJ, Jelinek GA. Prevalence of Comorbidities, Overweight and Obesity in an International Sample of People with Multiple Sclerosis and Associations with Modifiable Lifestyle Factors. PLoS One. 2016;11(2):e0148573.

10.      Marrie RA, Horwitz R, Cutter G, Tyry T, Campagnolo D, Vollmer T. Comorbidity delays diagnosis and increases disability at diagnosis in MS. Neurology. 2009;72(2):117-24.

11.      Thormann A, Sorensen PS, Koch-Henriksen N, Laursen B, Magyari M. Comorbidity in multiple sclerosis is associated with diagnostic delays and increased mortality. Neurology. 2017;89(16):1668-75.

12.      Zhang T, Tremlett H, Leung S, Zhu F, Kingwell E, Fisk JD, et al. Examining the effects of comorbidities on disease-modifying therapy use in multiple sclerosis. Neurology. 2016;86(14):1287-95.

13.      Marrie RA, Rudick R, Horwitz R, Cutter G, Tyry T, Campagnolo D, et al. Vascular comorbidity is associated with more rapid disability progression in multiple sclerosis. Neurology. 2010;74(13):1041-7.

14.      Chou IJ, Kuo CF, Tanasescu R, Tench CR, Tiley CG, Constantinescu CS, et al. Comorbidity in multiple sclerosis: its temporal relationships with disease onset and dose effect on mortality. Eur J Neurol. 2020;27(1):105-12.

15.      Olsson T, Barcellos LF, Alfredsson L. Interactions between genetic, lifestyle and environmental risk factors for multiple sclerosis. Nat Rev Neurol. 2017;13(1):25-36.

16.      [cited 28.04.2023]. Available from: https://www.awmf.org/leitlinien.

17.      Manolis A, Doumas M, Ferri C, Mancia G. Erectile dysfunction and adherence to antihypertensive therapy: Focus on beta-blockers. Eur J Intern Med. 2020;81:1-6.

18.      Wang J, Xiao Y, Luo M, Zhang X, Luo H. Statins for multiple sclerosis. Cochrane Database Syst Rev. 2010(12):CD008386.

19.      Negrotto L, Farez MF, Correale J. Immunologic Effects of Metformin and Pioglitazone Treatment on Metabolic Syndrome and Multiple Sclerosis. JAMA Neurol. 2016;73(5):520-8.

20.      Mostert JP, Admiraal-Behloul F, Hoogduin JM, Luyendijk J, Heersema DJ, van Buchem MA, et al. Effects of fluoxetine on disease activity in relapsing multiple sclerosis: a double-blind, placebo-controlled, exploratory study. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2008;79(9):1027-31.

21.      [28.04.2023]. Available from: https://ms-qualitaetshandbuch.de/.

22.      Patti F, Nicoletti A, Pappalardo A, Castiglione A, Lo Fermo S, Messina S, et al. Frequency and severity of headache is worsened by Interferon-beta therapy in patients with multiple sclerosis. Acta Neurol Scand. 2012;125(2):91-5.

Redaktion: AMSEL e.V., 23.10.2023