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Weniger Weizen, weniger MS?

Amylase-Trypsin-Inhibitoren in Weizen fördern die Entzündungsaktivität bei Multipler Sklerose. Das zeigten Mainzer Forscher an Mäusen und Menschen.

Schon lange ist bekannt, dass Weizen bei manchen Menschen Entzündungen fördern kann. Ein Beispiel ist die Zöliakie. Hier reagieren bestimmte Menschen auf Gluten, ein Klebereiweiß im Weizen, mitunter genügen bereits Spuren von Gluten. Wer Multiple Sklerose hat, braucht deshalb nicht auf Gluten zu verzichten. Hier gibt es keinen Zusammenhang (amsel.de hatte berichtet). Zöliakie, eine Autoimmunerkrankung, tritt bei Multiple Sklerose-Erkrankten nicht häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung.

Wohl aber könnten die jüngsten Ergebnisse eines Mainzer Forschungsteams, dazu führen, dass Menschen mit Multipler Sklerose künftig weniger Brot und Brötchen zu sich nehmen – sofern sich die Ergebnisse in größeren Studien bestätigen. Das Team der Johannes Gutenberg-Universität Mainz fand nämlich heraus, dass ein anderer Stoff, der im Weizen (sowie anderen Getreidearten) vorkommt, eine Multiple Sklerose verschlimmern kann. Dabei handelt es sich um Amylase-Trypsin-Inhibitoren, kurz ATI.

Nicht nur Weizen enthält ATI

Dieses Protein kommt natürlich in verschiedenen Getreidearten vor und schwankt nicht nur von Sorte zu Sorte, sondern zum Beispiel auch abhängig vom Standort. Hauptsächlich finden sich ATI in

  • Weizen,

aber auch (in unterschiedlich hohen Anteilen) in

  • Gerste,
  • Roggen,
  • Dinkel,
  • Emmer oder
  • Einkorn,

wobei alte Sorten weniger ATI enthalten.

In Hirse, Soja und Buchweizen sind die ATI-Moleküle anders aufgebaut als die Weizen- und Weizenverwandten-ATI . Buchweizen zählt zwar nicht zu den Süßgräsern [die Red. dankt für den freundlichen Hinweis einer Leserin] und gilt vielen als gesunde Alternative, da er auch glutenfrei ist. Er enthält zwar ATI, jedoch - nach Rücksprache mit Prof. Detlef Schuppan, eine andere Art ATI, die nicht solche Entzündungen hervorruft. In der aktuellen Studie wurde nur Weizen-ATI getestet.

Amylase-Trypsin-Inhibitoren können zu Entzündungen führen, nicht nur im Darm selbst, sondern auch in anderen Organen wie Lunge oder Leber. Das war schon bekannt. Neu ist, und das hat das Team um Professor Detlef Schuppan herausgefunden, dass es darüber hinaus auch Entzündungen im Zentralnervensystem, also Gehirn und Rückenmark, verstärken kann. Dem Ort also, an dem die MS bereits zu Schäden führt.

Zunächst konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dies an einem Tiermodell der MS nachweisen. Bei einer Ernährung, die zu einem Viertel aus Weizen bestand, verschlechterten sich die Maus-MS-Symptome stark. Maus ist nicht gleich Mensch und daher überprüften sie diese Ergebnisse auch an Menschen mit Multipler Sklerose. Teilgenommen hatten MS-Patientinnen und-Patienten mit mittelschwerer, wenig aktiver MS. Aufgeteilt in zwei Gruppen, ernährte sich die erste Studiengruppe drei Monate lang Weizen-reduziert, danach weizenhaltig. Die zweite Studiengruppe ernährte sich genau umgekehrt: zunächst weiter weizenhaltig, danach Weizen-reduziert. Eine sogenannte Cross-over-Studie.

Weniger Weizen, weniger Schmerzen, weniger Entzündungswerte

Weizenreduzierte Ernährung führte zu signifikant weniger Schmerzen. Außerdem zeigten Blutuntersuchungen weniger entzündliche Immunzellen. Die Neurofilamentwerte änderten sich nicht, ebenso wenig die Population der T-Zellen. Es sollen weitere und vor allem größere Studien auf diese Pilotstudie folgen, in der weizenfreie Ernährung auch mit MS-Therapien kombiniert wird.

Einschränkungen hatte diese Pilotstudie allerdings in der Anzahl (nur 16) und teilweise auch der Auswahl der Probanden: Alle 16 Teilnehmer hatten schubförmige Verläufe, 15 davon waren weiblich (das durchschnittliche Geschlechterverhältnis bei MS ist etwa 2,7 Frauen auf 1 Mann). Der durchschnittliche EDSS-Wert lag bei relativ niedrigen 2,5. Die durchschnittliche jährliche Schubrate bei niedrigen 0,34 und die meisten nahmen Immunmodulatoren der Wirksamkeitskategorie 1, also eher schwach wirksame Wirkstoffe. Die Altersspanne lag mit 35 bis 51 Jahre für schubförmige Verläufe recht durchschnittlich und auch die Dauer der Erkrankung (4 bis 14,5 Jahre) schloss Patientinnen und Patienten mit ein, die bereits einige Jahre mit ihrer MS lebten.

Nie mehr Brötchen zum Frühstück?

Manch Betroffener und manch Betroffene mag sich nun fragen, ob sie auf dieser Grundlage selbst einen Versuch starten sollte, sich weizenreduziert oder gar weizenfrei zu ernähren. Diese Pilotstudie liefert in erster Linie deutliche Ergebnisse, um weitere Studien zu Weizen/ ATI und Multipler Sklerose zu starten. Ein deutliches Signal an die MS-Community, nun auf Weizen zu verzichten, bietet sie keineswegs. Das sind bisher "ungelegte Eier" oder, um im Bild zu bleiben, "ungebackene Brötchen".

Wer dennoch darüber nachdenkt, sollte besser seinen Arzt konsultieren, bevor er etwa radikal auf Weizen (und andere Getreidesorten) verzichtet. Falls doch, kommt es darauf an, ATI-haltige Produkte klug zu ersetzen, im Sinne einer ausgeglichenen, dh. vor allem weiter ballaststoffreichen und nicht zu fetthaltigen Ernährung. Viele mögen sich, gerade auch in Deutschland, mit seinen rekordverdächtigen 3.200 Brotsorten, fragen, wie man denn Weizen und Co. überhaupt in der Ernährung ersetzen kann. Gerade Nudeln, Brot und Pizzateig dienen hierzulande als "Sättigungsbeilage Nummer eins". Wie also satt werden, ohne die Brezel, das Körnerbrötchen, ohne Schneckennudel, Zimtbrötchen, Dinkelbrot und Spaghetti? Gibt es vielleicht auch Brötchen und Brot ohne ATI?

Die meisten glutenhaltigen Getreidesorten enthalten auch ATI, wenngleich zu unterschiedlich hohen Anteilen. Zu den (nahezu) ATI-freien Getreiden gehört zum Beispiel Hafer. Das Müsli wäre also gerettet. Qinoa ist zum Beispiel frei von ATI, auch Amaranth, Kartoffeln, Mais und Reis "gehen". Falls Sie einen Selbstversuch starten wollen: Vielleicht ersetzen Sie zunächst auch nur einen Teil der ATI-haltigen Getreidesorten. Das sind generell alle Getreidesorten, die auch Gluten enthalten. Verzichten zum Beispiel nur auf die tägliche Brezel und genießen weiter Ihr Vollkornbrot abends. Oder greifen auf glutenfreie Produkte zurück.

Quellen: Therapeutic Advances in Neurological Disorders, 25.06.2023; Apotheken-Umschau, 31.07.2019

Redaktion: AMSEL e.V., 19.02.2024