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Über die Lunge ins Gehirn

Lange war das Mikrobiom der Lunge unentdeckt. Nun weisen Göttinger Forscher an Ratten nach, dass es sogar die Immunbereitschaft im Gehirn mitsteuern kann. - Ein Ansatz für neue Behandlungsoptionen.

Erst wurde das Darm-Mikrobiom, die Darm-Hirn-Achse, und ihr möglicher Einfluss auf die Multiple Sklerose entdeckt, nun steht das Lungen-Mikrobiom und damit die Lunge-Hirn-Achse im Mittelpunkt: Wissenschaftler des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple-Sklerose-Forschung der Universitätsmedizin Göttingen zeigen, wie das Mikrobiom der Lunge, also die dünne aber dennoch vorhandene Besiedlung des Atemorgans das Gehirn, und damit ein weiteres Organ, für Autoimmunentzündungen anfällig macht.

Signale von der Lunge ins Gehirn

Ein Forscherteam unter der Leitung von Prof. Dr. Alexander Flügel und Prof. Dr. Francesca Odoardi konnte die enge Beziehung zwischen dem Lungenmikrobiom und dem Gehirn, die Lunge-Hirn-Achse, an Ratten nachweisen. Das Mikrobiom in der Lunge steuert nämlich, wie aktiv die Mikroglia im Gehirn sind: Es sendet Signale von der Lunge ins Gehirn.

Mikroglia sind bestimmte Zellen im Gehirn, die dort ähnliche Aufgaben verrichten wie das Immunsystem im übrigen Körper. Mit ihren langen dünnen Ästen tasten sie die Umgebung ab und schlagen Alarm, um Immunzellen herbeizurufen, wenn sie Körperfremdes oder Schäden entdecken. Eigentlich eine gute Einrichtung, um das Gehirn zu schützen. Eigentlich.

Denn bei der Multiplen Sklerose sind die Mikroglia im Gehirn überaktiv. Sie lösen den zerstörerischen Prozess aus, bei dem zunächst das Myelin um die Nervenzellen herum und dann ganze Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark zugrunde gehen.

Zusammensetzung des Mikrobiom entscheidend

Die Göttinger Wissenschaftler fanden nun heraus, dass Signale aus dem Mikrobiom der Lunge Autoimmunprozesse im Zentralen Nervensystem auslösen kann. Umgekehrt ließen sich über diese Funktion solche Prozesse aber auch begrenzen.

Doch wie kann man die Lungenflora beeinflussen? – Einfluss auf das Mikrobiom der Lunge haben zum Beispiel Infektionen, das Rauchen, Umweltverschmutzung, aber auch Antibiotika. Die Göttinger Forscher gingen dem genauer nach.

Nach der lokalen Gabe von Antibiotika in die Lunge konnten sie Veränderungen der Mikroglia im Gehirn, also "weit" entfernt von der Lunge messen und sogar sichtbar machen. Die Verästelungen der Mikroglia zeigten sich nach dieser Manipulation dicker und verkürzt. Die Mikroglia reagierten dann weniger stark auf Entzündungsbotenstoffe. Damit wurden weniger Immunzellen ins entzündete Gewebe gelockt.

Lipopolysaccharid wirkt von der Lunge aus im ZNS

Doch welche Teile des Mikrobioms waren dafür verantwortlich, wer lähmte die Mikroglia derart? - Auch dem ging das Göttinger Team nach. Eine Analyse der Lungenbakterien ergab, dass durch die Antibiotika-Gabe bestimmte Bakterien vermehrt auftreten. Die wiederum haben einen Zellwandbestandteil, der Lipopolysaccharid produziert. Und genau dieser Stoff ist es, der die Mikroglia bremst und somit eine Art Autoimmun-Resistenz auslöst. Umgekehrt führte die Senkung von Lipopolysaccharid in der Lunge zu einer Verstärkung der Autoimmunerkrankung.

Sicherlich wichtige Erkenntnisse, um die Multiple Sklerose besser zu verstehen. Ob sich daraus Therapien gegen Multiple Sklerose, vielleicht mit Probiotika oder auch mit Antibiotika entwickeln lassen, müssen künftige Untersuchungen und Studien am Menschen zeigen. Sie könnten dann allerdings nicht nur bei MS helfen, sondern auch bei anderen Krankheiten des ZNS, bei denen die Immunaktivität der Mikroglia erhöht ist.

Quellen: Nature, 23.02.2022; Pressemitteilung der Universität Göttingen, 24.02.2022.

Redaktion: AMSEL e.V., 25.02.2022