2021 stand der Welt MS Tag unter dem Motto: Stay connected – wir bleiben in Verbindung. Das hat eine soziale Komponente, daneben aber auch eine medizinische, denn die Nerven im Gehirn und Rückenmark sind ebenfalls miteinander verbunden und – ganz wichtig – wollen "ständig" neu verbunden werden. Gerade bei Menschen mit Multipler Sklerose.
Das Gehirn ist lebenslang lernfähig
Jeder Mensch – mit oder ohne MS – hat ein Wunderwerk in seinem Kopf, eine Schaltzentrale von erstaunlicher Dimension. Unser Gehirn ist aus rund 86 Milliarden Nervenzellen aufgebaut, den sogenannten Neuronen. Sie bilden sich fast alle während der Schwangerschaft. Jedes Neuron hat zwischen 1.000 und 10.000 Verbindungen (Synapsen) zu den anderen Neuronen. Während sich bis zum Lebensende nur noch wenige neue Neuronen bilden, werden diese Synapsen immer wieder neu geknüpft.
„Das heißt, unser Gehirn ist keine fix verdrahtete Zentrale, sondern ein anpassungsfähiges, lernfähiges Organ, mit dem wir die Welt interpretieren und uns in ihr bewegen, uns den Anforderungen und Möglichkeiten anpassen“, so Prof. Dr. med. Jürg Kesselring, Senior Botschafter, Neuroexperte und ehemaliger Chefarzt für Neurologie und Rehabilitation am Rehabilitationszentrum Valens in der Schweiz. Diese Fähigkeit zur Neu- und Umstrukturierung wird mit Neuroplastizität bezeichnet. Bestehen bleiben immer jene Verbindungen, die der Mensch gerade braucht. Neuer Input schafft neue Nervenverbindungen.
Deshalb ist Aktivität das A und O. Neuroplastizität lebt davon, dass der Mensch lernt – immer wieder neu. Und Neuroplastizität macht das Gehirn widerstandsfähig. Sie ermöglicht es, sich von Schlaganfällen, Verletzungen und angeborenen Schädigungen zu erholen und sie hilft Menschen, sich an schwierige Situationen anzupassen und neue Wege zu erlernen. Dieser Umbau des Gehirns ist bis zu einem gewissen Maße steuerbar. Unter dem Motto „Use it or lose it“ („nutze es oder verliere es“) ist das aktive „Füttern“ dieses Wunderwerks für jeden Menschen eine lebenslange Aufgabe.
Einschränkungen kompensieren und neue Wege eröffnen
Die Neuroplastizität unterliegt im Laufe eines Lebens Veränderungen, ausgelöst durch verschiedene Erfahrungen, wie zum Beispiel sensorische oder motorische Einschränkungen, Lernen, Stress, Altern oder Ernährung. Sie sorgt für Anpassungsfähigkeit in den verschiedenen Phasen des Lebens. Die Flexibilität des Gehirns ermöglicht es aber auch noch Jahre später, an Veränderungen zu arbeiten. Bei einer chronischen Erkrankung wie der MS, die sich im Laufe der Zeit unterschiedlich stark verändern kann, können neuroplastische Prozesse einen relevanten Anteil an der erfolgreichen Kompensation von MS-bedingten Schädigungen des Zentralen Nervensystems haben.
„Neuroplastizität kann bei Multipler Sklerose auf verschiedenen Ebenen untersucht, beschrieben und angewandt werden“, erläutert Professor Kesselring. „Auf zellulärer Ebene in Form von Synapsen, die sich reorganisieren und Neuronen, die vermehrt aussprossen. Auf Gewebeebene bei der Remyelinisierung. Auf der Systemebene, indem Funktionen von der Großhirnrinde übernommen werden; und auf der Verhaltensebene durch neue motorische und kognitive Strategien.“ An diesem Punkt setzt die Neurorehabilitation an. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass das Gehirn grundsätzlich zu jeder Zeit trainierbar ist. Die Neuroplastizität unterliegt im Laufe eines Lebens Veränderungen, ausgelöst durch verschiedene Erfahrungen, wie zum Beispiel sensorische oder motorische Einschränkungen, Lernen, Stress, Altern oder Ernährung. Sie sorgt für Anpassungsfähigkeit in den verschiedenen Phasen des Lebens.
Die Flexibilität des Gehirns ermöglicht es aber auch noch Jahre später, an Veränderungen zu arbeiten. Bei einer chronischen Erkrankung wie der MS, die sich im Laufe der Zeit unterschiedlich stark verändern kann, können neuroplastische Prozesse einen relevanten Anteil an der erfolgreichen Kompensation von MS-bedingten Schädigungen des Zentralen Nervensystems haben.
Neuroplastizität kann bei Multipler Sklerose auf verschiedenen Ebenen untersucht, beschrieben und angewandt werden“, erläutert Professor Kesselring. „Auf zellulärer Ebene in Form von Synapsen, die sich reorganisieren und Neuronen, die vermehrt aussprossen. Auf Gewebeebene bei der Remyelinisierung. Auf der Systemebene, indem Funktionen von der Großhirnrinde übernommen werden; und auf der Verhaltensebene durch neue motorische und kognitive Strategien.“
An diesem Punkt setzt die Neurorehabilitation an. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass das Gehirn grundsätzlich zu jeder Zeit trainierbar ist. Mit ihr können sowohl körperliche als auch kognitive Bereiche verbessert werden. Sie beinhaltet die grundlegende Bereitschaft eines Patienten zum Lernen. Lernen kann jeder Mensch in verschiedenen Bereichen: körperlich zum Beispiel das Skifahren, geistig eine neue Sprache oder – wer Einschränkungen hat – das Trainieren verlorengegangener Bewegungsabläufe. Nach Professor Kesselring sei die wichtigste Maxime, aktiv zu bleiben, denn Inaktivität sei toxisch für das Gehirn. „Das heißt nicht, dass jeder immer rastlos herumsausen soll, sondern vielmehr nach den eigenen Möglichkeiten aktiv zu sein und das Leben bewusst zu gestalten.“
Realistische Ziele und ein gutes Team
Wer sich bewusst macht, dass das Gehirn sich ständig verändern kann, kann leichter Eigenverantwortung für eine Rehabilitation übernehmen. Es gilt, den Menschen als Ganzes zu betrachten und alle aufbauenden Kräfte mit einzubeziehen: Fitness, Ernährung, Erholung, Selbst-vertrauen, Gelassenheit, Humor, eine gewisse Distanz zu sich selbst und eventuell spiritueller Halt sind Dimensionen der Resilienz (seelischen Widerstandskraft), auf die jeder selbst Einfluss hat.
Zudem ist es wichtig, Lernhindernisse zu erkennen, wie beispielsweise eine Depression, und zunächst zu therapieren, bevor die Neurorehabilitation begonnen werden kann. Gemeinsam sollten bestimmte geltende Prinzipien besprochen werden: 1. Lernen ist ein langsamer Prozess, der Zeit braucht und die Möglichkeit der Wiederholung beinhalten muss. 2. Lernen und Entspannung müssen sich abwechseln, damit das Gelernte sich festigen kann. 3. Motivation ist ein entscheidender Faktor. Es kommt auf die Einstellung an, auf den Willen, sein Bestes zu geben.
Eine erfolgreiche Neurorehabilitation beginnt mit dem eigenen Hinterfragen: Was kann ich? Was traue ich mir zu oder kann ich mir vorstellen? Wo möchte ich hin? Der MS-Erkrankte sollte sich über die eigenen Möglichkeiten im Klaren sein, um dann konkrete und realistische Ziele setzen zu können. Es ist wenig sinnvoll, ein Ziel zu formulieren wie „Bitte machen Sie mich wieder gesund“. Besser sind Ziele, die den individuellen Voraussetzungen entsprechen, wie zum Beispiel „Ich möchte die Treppe alleine hinaufgehen“ oder „Ich möchte meine Gehstrecke um 100 Meter verlängern.“
Und es braucht eine fachkundige, motivierende Anleitung, gute Lehrer oder Begleiter. Ein schlagkräftiges, interdisziplinäres Team, das den Menschen in der Rehabilitation aufbaut und unterstützt. Dazu gehören natürlich der MS-Erkrankte selbst, ein oder mehrere Angehörige oder Betreuer, Neurologen mit Rehabilitationsschwerpunkt, Pflegepersonen mit Kenntnissen in der Neurorehabilitation, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden, Neuropsychologen, Verhaltenstherapeuten, Sozialdienst, ggf. Kontinenzberater und andere.
Schritt für Schritt zu mehr Lebensqualität
Nach dem Reha-Eingangsgespräch erstellt der Arzt gemeinsam mit dem Patienten einen individuellen, maßgeschneiderten Therapieplan. Eine effektive Rehabilitation setzt Ziele für die nächste Woche und beschreibt konkret, wie diese Ziele erreicht werden sollen. So steht zum Beispiel im Plan, dass eine MS-Erkrankte in der Folgewoche in der Lage sein soll, drei Treppenstufen zu steigen. Die Physiotherapeuten arbeiten darauf hin und trainieren entsprechend Kraft, Gleichgewicht oder Beweglichkeit der Gelenke. Hilfsmittel sind dabei gut und nützlich, aber das Hilfsmittel selbst ist nicht die Therapie.
Vielmehr ist Kreativität ganz bedeutend, wenn es um das Lernen und das Neu-Lernen verlorener Fähigkeiten geht. Neuromuskuläre Schaltkreise entstehen durch bisher unbekannte Bewegungsmuster wie etwa das Erlernen des Jonglierens oder das Schreiben mit der linken Hand, wenn man Rechtshänder ist. Am Ende der Woche wird geschaut, inwieweit die gesteckten Ziele erreicht wurden, bei obigem Beispiel etwa, wie viele Treppenstufen die Patientin meistert. Die Ziele werden dahingehend angepasst. Das Ganze ist ein dynamischer Prozess. Es zeigt sich, dass die Motivation besonders hoch ist, wenn Patienten und Ärzte oder Therapeuten die zu erreichenden Ziele gemeinsam erarbeiten können.
„Das Credo einer guten Neurorehabilitation sollte sein: Welches Optimum können wir trotz der Einschränkungen herausholen“, erläutert Professor Kesselring. Die „Trotz-Haltung“ sei besonders wichtig: „Ich habe MS, trotzdem kann ich einiges machen.“ Erfolge sollen dabei nicht nur in Zahlen messbar werden, sondern auch im Alltag nach der Rehabilitation sicht- und erweiterbar. Um die Motivation auch nach dem Rehaaufenthalt zu Hause hochzuhalten, ist das Umfeld, in dem diese gefördert wird, von großer Bedeutung. Angehörige, der Freundeskreis, Therapeuten etc. sollten idealerweise an einem Strang ziehen.
Wichtig ist der Prozess des Verinnerlichens bestimmter Abläufe, Übungen oder Lerninhalte – eine große Herausforderung bei einer Krankheit wie MS, die mit häufig wechselnden Symptomen einhergehen kann. Oft fällt das zudem im motorischen Bereich leichter, als bei Verhaltens- oder psychischen Problemen. Eine bessere Allagsbewältigung kann ein großer Motivator sein. Sich selbst Socken anziehen zu können, eine Gehstrecke alleine zu bewältigen oder Stufen zu erklimmen – alles, was der Betroffene aktiv selbst macht, fördert Neuroplastizität und damit die Alltagskompetenz.
In Verbindung bleiben
Neuroplastizität und Neurorehabilitation klingen wider im Motto des diesjährigen Welt-MS-Tages im Mai „Stay connected – Wir bleiben in Verbindung“. Denn Verbindungen liegen ihnen quasi zugrunde. Unser Gehirn ist umso leistungsfähiger, je mehr Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen geknüpft werden – immer wieder, ein Leben lang. Und eine erfolgreiche Rehabilitation lebt von einem Umfeld, das das Lernen beflügelt, von sozialen Verbindungen, die tragfähig und motivierend sind. Gepaart mit Selbstdisziplin, Konzentration und Geduld kann so das Knüpfen des Synapsennetzes jeden Tag wieder neu in Angriff genommen werden.
AMSEL e.V. bedankt sich herzlich bei Prof. Dr. med. Jürg Kesselring, der als Experte und Interviewpartner für diesen Artikel zur Verfügung stand. Professor Kesselring ist Senior Botschafter und ehemaliger Chefarzt für Neurologie und Rehabilitation am Rehabilitationszentrum Valens (1987 bis 2007) in der Schweiz, Mitglied (Fellow) des Royal College of Physicians, Neuroexperte mit über 230 Originalpublikationen sowie Autor/Herausgeber von 15 Fachbüchern, vor allem über Multiple Sklerose, Neurorehabilitation und Magnetresonanz-Tomographie. Er ist Titularprofessor für Klinische Neurologie und Neurorehabilitation an der Universität Bern, dem Center of Neuroscience sowie der Universität und ETH Zürich und fungiert als Mitglied der Assemblée des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) sowie in verschiedenen Expertengremien, u.a. in der Schweizerischen Hirnliga und verschiedenen (neurologischen) Editorial Boards; außerdem ist er Ehrenpräsident der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft.
Quelle: together, 02.21
Redaktion: AMSEL e.V., 10.01.2022