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ECTRIMS 2022 (1) – Paradigmenwechsel hin zu hochwirksamen Therapien?

Sollte die mentale Hirngesundheit bei Multipler Sklerose künftig mehr beachtet und darum früher hochwirksam behandelt werden? MS-Experten haben diskutiert. - Professor Mathias Mäurer berichtet von der ECTRIMS-Tagung aus Amsterdam.

Mit moderat wirksamen Mitteln beginnen und erst bei Bedarf steigern oder von Anfang an hochwirksam therapieren?  – Die Diskussion um „Hit hard and early“ gibt es unter MS-Experten wie Patienten schon so lange, wie es hochwirksame Therapien überhaupt gibt. Das Wissen um die Multiple Sklerose, auch um ihre "stillen" Anzeichen, sowie die Therapiemöglichkeiten haben sich in den letzten 30 Jahren mehr als verbessert. Das schafft auch eine neue Grundlage für die Frage nach der Intensität der Therapie.

Erhält jemand die Diagnose Multiple Sklerose, dann stellt sich schnell die Frage, wie sie zu behandeln sei. Es gibt beim Gros der Verläufe (den schubförmig-remittierenden) moderat wirksame Therapien und solche, die deutlich stärker wirken. Das weiß man aus den Zulassungsstudien. Tendenziell bringen stärker wirksame MS-Therapien – diese sind eingeteilt in drei Wirkungsgrade, siehe auch MS behandeln – auch schwerere, mitunter lebensgefährliche Nebenwirkungen mit sich.

Das macht die Entscheidung nicht unbedingt einfach. Dazu kommen persönliche Präferenzen und Abneigungen (z.B. gegen Spritzen), noch nicht erfüllter Kinderwunsch etc. Die Wahl der Therapie ist ob ihrer vielen Optionen heute nicht unbedingt einfach. Wobei es natürlich ein Riesenvorteil für Betroffene wie Ärzte ist, dass überhaupt mehr als ein Dutzend verlaufsmodifizierende Wirkstoffe gegen MS zur Verfügung stehen.

Mentale Hirngesundheit: künftig mehr Einfluss auf die Therapie?

Es gibt außerdem Kriterien, festgelegt in Leitlinien, welche Ärzten und Patienten dabei helfen sollen, die richtige Therapie zu finden. Für eine hochwirksame Therapie sprechen zum Beispiel eine hohe Läsionslast (d. h. vergleichsweise viele Läsionen) und die Verortung dieser Läsionen: Sind Hirnstamm und Rückenmark beteiligt, spricht auch dies schon heute für „Hit hard and early“, also eine frühe hochwirksame Therapie.

Gavin Giovannoni vertritt ganz klar die Linie einer möglichst frühzeitigen, hochwirksamen Therapie gegen Multiple Sklerose. Das hat er in seinem Vortrag auf der ECTRIMS-Tagung vergangene Woche in Amsterdam deutlich gemacht. Professor Mathias Mäurer berichtet über dieses Thema auf MS Docblog:

Zu den Leitlinien-Kriterien müsste Giovannonis Meinung nach "Brain Health" als Ganzes, und damit meint er insbesondere die mentale Hirngesundheit, dazukommen. Also mentale neben motorischen Fähigkeiten stärker in den Fokus rücken bei der Frage nach der passend wirksamen Therapie.

Eskalation von Anfang an einplanen

Kollegen bekräftigten dies, zum Beispiel sei nach Therapiebeginn ein frühes und regelmäßiges Monitoring (z.B. MRT nach 6 Monaten) notwendig, um sofort zu erkennen, wenn eine Therapie nicht ausreiche, um so möglichst bald auf ein höher wirksames Medikament wechseln zu können. Auch müsse bei Beginn mit einem moderat wirksamen Wirkstoff möglichst schon ein künftiger Wechsel mit bedacht werden. Das bedeutet, Voraussetzungen für höher wirksame Medikamente gleich mitzubedenken, zum Beispiel genügender Impfschutz, und ebenso Zeit einzuplanen, um die Laborwerte vor dem Wechsel ggf. wieder in den Normalbereich zu bekommen (hier geht es vor allen Dingen um die Lymphozyten).

Wie wichtig eine rechtzeitige, ausreichend wirksame Therapie sei, zeige sich auch bei Kindern und Jugendlichen. Sie litten zwar unter einer von Beginn an höheren Läsionslast als Erwachsene, machten dies jedoch eher wieder wett, weil ihr Gehirn über große Plastizität verfüge. Kindern und Jugendlichen merkt man die MS oft nicht an, weil zum Beispiel Gehprobleme fehlen. Was dabei häufig übersehen wird: Kinder und Jugendliche mit MS haben oft ganz signifikant geringere kognitive Leistungen verglichen mit Gleichaltrigen. Und genau darum geht es bei Hirngesundheit: alle Fähigkeiten des Gehirns, gerade auch die mentalen, mit einfließen zu lassen bei der Entscheidung für oder gegen ein stärker wirksames Medikament.

Quelle: MS-Docblog, 31.10.2022.

Redaktion: AMSEL e.V., 04.11.2022