Die neue Leitlinie zur "Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen" umfasst 5 Kapitel auf 300 Seiten. Verglichen mit der vorherigen Version sind vor allem diese drei Inhalte anders:
1. Empfehlungen für schubförmige Multiple Sklerose: neues Schema
Das bisherige Stufenschema, das lediglich 2 Stufen kannte – moderat und (hoch-) aktiv) – wurde ersetzt durch 3 Wirksamkeitskategorien. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Zahl der zugelassenen immunmodulatorischen Substanzen in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Gemessen an der jeweiligen Schubratenreduktion gilt nun folgende Einteilung:
Wirksamkeits-kategorie 1 | relative Reduktion der Schubrate im Vergleich zu Plazebo von 30–50% | Beta-Interferone einschl. Peg-Interferon, Dimethylfumarat (kombinierte Analyse der Zulassungsstudien), Glatirameroide, Teriflunomid |
Wirksamkeits-kategorie 2 | relative Reduktion der Schubrate im Vergleich zu Plazebo von 50–60% | Cladribin, Fingolimod, Ozanimod |
Wirksamkeits-kategorie 3 | Reduktion der Schubrate um > 60% im Vergleich zu Plazebo oder > 40% im Vergleich zu Substanzen der Kategorie 1 | Alemtuzumab, CD20-Antikörper (Ocrelizumab, Rituximab (Off-Label)), Natalizumab |
Eine höhere Wirksamkeitskategorie kann auch seltene aber schwerere Nebenwirkungen mit sich bringen. Die Empfehlungen beruhen auf statistischen Durchschnittwerten, was bedeutet, dass Einzelfälle immer davon abweichen können. Zudem haben individuelle Vorerkrankungen, Lebensumstände etc. Einfluss auf die Wahl des MS-Medikamentes. Das gilt es im Einzelfall mit dem Neurologen zu besprechen.
Die neue Leitlinie macht Vorschläge für Einstiegs-, Wechsel- und auch Ausstiegsszenarien für die einzelnen Wirksamkeitskategorien (nach wieviel schubfreien Jahren zum Beispiel ein Immunmodulator der Kategorie 1 unter engmaschiger Beobachtung auch abgesetzt werden kann. In welchen Fällen von neu diagnostizierten Patienten von Anfang an die Wirksamkeitskategorie 3 ratsam ist).
2. Neuzulassungen in der MS-Therapie: progrediente MS
Ocrelizumab als erste für progrediente MS zugelassene Therapie wurde mit in die Leitlinie aufgenommen, sowie Siponimod bei sekundär progredienter MS mit aktivem oder hochaktivem Krankheitsverlauf. Ozanimod ergänzt die Palette der Wirkstoffe bei schubförmig-remittierender MS. Fingolimod kann inzwischen bei Kindern ab 10 Jahren mit hochaktiven Verläufen verschrieben werden (vorher nur Off-Label).
Die Neuromyelitis Optica (AQP4-AK-positive NMOSD) zählt zwar nicht zur Multiplen Sklerose, doch geht die Leitlinie auch darauf ein. Erstmals kann man schubförmige Verläufe dieses Krankheitsbildes nun auch immunmodulatorisch behanden, und zwar mit Eculizumab.
3. Kinder / Jugendliche und ältere Menschen mit Multipler Sklerose
Extra erwähnt und erstmals ausführlich aufgenommen wird auch die Diagnose und Behandlung von speziellen Untergruppen der MS-Erkrankten: junge und ältere Menschen mit MS.
Bei MS-ähnlichem Symptombeginn in höherem Alter sollte immer eine vaskuläre Erkrankung in die Differenzaldiagnose mit einbezogen werden. MS in höherem Alter verschiebt die Geschlechteraufteilung. Hier sind es häufiger als unter Jüngeren Männer (Verhältnis zu Frauen 1:2 anstatt 3:2) und der primär-progrediente Verlauf ist häufiger; die Zeitspanne bis zum Erreichen von EDSS 6 (mobil nur mit Hilfsmittel) ist kürzer. Eine Immunmodulation kann zwar weniger oft Erfolg zeigen, sollte aus diesen Gründen jedoch bei älteren Patienten nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
Komorbiditäten (z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen) können mit einem schlechteren Verlauf einhergehen. Verändertes Immunsystem und veränderte Wirkstoffaufnahme im Alter können sich u.a. auf Risiken und Nebenwirkungen auswirken, was eine engmaschigere Überwachung der Patienten erforderlich machen kann.
Bei den 3 - 7 %, die ihre MS-Diagnose vor dem 18. Lebensjahr erhalten, verhält es sich - zum Glück - teils umgekehrt: Trotz vieler Schübe und MS-Herde ist die Krankheitsprogression meist langsamer, der primär-progrediente Verlauf äußerst selten. Auch bei Kindern ist die Differenzialdiagnose sehr wichtig. Schübe sollten wie bei Erwachsenen mit Kortison behandelt, die Dosierung jedoch an das kleinere Gewicht angepasst werden.
Nicht alle MS-Modulatoren sind für Kinder zugelassen, einige werden jedoch derzeit geprüft. Bei leichten bis mittelschweren Verläufen empfiehlt die Leitlinie bei Kindern zunächst den Einsatz von Interferonen oder Glatirameracetat (also Wirsamkeitskategorie 1). Bei von vornherein aktiven Verläufen oder bei trotz Therapie aktiven Verläufen empfiehlt sie Fingolimod.
Quelle: DGN (Pdf), Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, Federführend:
Prof. Dr. Bernhard Hemmer, MünchenStand: 17. Februar 2021, letzte Bearbeitung am 10. Mai 2021, online seit: 10. Mai 2021.
Redaktion: AMSEL e.V., 10.05.2021