Spenden und Helfen

Unterwegs mit MS – unterwegs zu sich selbst

Chiara und Ines bekamen früh in ihren Zwanzigern die Diagnose Multiple Sklerose und engagieren sich dennoch oder gerade deswegen auch als Sprecherinnen der Jungen Initiative im Ortenaukreis. Mit ihrer eigenen Erfahrung wollen sie Anlaufstelle für junge Neudiagnostizierte sein. Sie auf dem. Weg zum konstruktiven Umgang mit ihrer MS begleiten. Ihre Bewältigungsstrategien reichen vom Reden und Zuhören bis zum neuen Haarschnitt, zu Piercings und Tattoos.

MS-Diagnose in Zeiten der pandemiebedingten Isolation

Chiara (28) erhielt die Diagnose mit 25 Jahren. Sie hat die schubförmige Form der MS. Als Kundenberaterin bei einer Krankenkasse war sie gerade in eine Führungsposition aufgestiegen, hatte ein Fernstudium in Gesundheitsökonomie begonnen. Umso härter traf sie die Diagnose und das Bewusstsein, dass ihr Körper nicht mehr funktioniert wie bisher und sie keine Kontrolle darüber hat. Erschwerend dabei: Sie musste mit der Schreckensnachricht allein klarkommen, denn Besucher waren in der Klinik aufgrund von Corona nicht zugelassen.

Unter Migräne leidet sie schon seit ihrem 12. Lebensjahr, nun brachte ihr die MS noch Fatigue und Sensibilitätsstörungen. Die lebensfrohe Schwarzwälderin brauchte über ein Jahr, um die Krankheit und ihre Einschränkungen einigermaßen zu akzeptieren. Nach langem Hadern mit ihrem Körper und ihrem Schicksal – „Warum ich? Reicht es denn nicht, dass ich schon mit 12 die Trennung meiner Eltern und mit 16 auch noch den Tod meiner Mutter verarbeiten musste?“ – hat sich Chiara weitgehend mit ihrer MS arrangiert. Eine große Stütze sind ihr Sabrina, ihre beste Freundin, und ihr Verlobter Thorben. Die beiden haben vor, nächstes Jahr zu heiraten.

Kraft und Selbstwert durch soziales Umfeld

Auch auf beruflicher Seite erfährt die Leseratte mit über 500 Büchern im Regal viel Verständnis und Unterstützung. Ihren Beruf kann sie auch bei wachsender Beeinträchtigung ausüben, allerdings aufgrund ihrer Fatigue schon heute nicht mehr in Vollzeit. Ihren beruflichen Ehrgeiz musste „Chi“, wie ihr Vater sie nennt, zugunsten der MS einschränken. Identifikation und Selbstwert bezieht sie nunmehr aus ihrem sozialen Umfeld. Das Paar wohnt in einer großzügigen barrierefreien Wohnung, sodass sich die Hobbyköchin auch in dieser Hinsicht sicher fühlt und keine Zukunftsängste verspürt, von möglichen finanziellen Engpässen abgesehen.

Neben ihrer Therapie mit Ofatumumab ist die Waldliebhaberin offen für komplementäre Therapiemethoden. Nahrungsergänzungsmittel wie Weihrauch und Kurkuma hat sie knapp ein Jahr angewendet. Eine Verbesserung konnte sie nicht feststellen, für sie also kein erfolgversprechender Weg. Alternative Therapiemethoden seien ohnehin auch eine Frage des Budgets, so Chiara. Alle zwei Wochen lässt sie sich gegen Fatigue und Migräne akupunktieren und hat sich neulich Piercings an den Ohren stechen lassen, die gegen entzündliche Erkrankungen helfen sollen. Für eine Beurteilung sei es aber noch zu früh.

Schicksal(sschlag) MS

Ines (28) war in einer ähnlichen Situation, als sie mit 21 Jahren die Diagnose MS bekam. Sie arbeitete gerade an ihrer Bachelor-Thesis in Betriebswirtschaftslehre, als sie plötzlich unter Seh- und Sensibilitätsstörungen in der rechten Gesichtshälfte litt. Diese Unpässlichkeiten schrieb sie dem Prüfungsstress zu. Als sie nach bestandener Prüfung nicht aufhörten, schickte ihre Mutter sie zum Neurologen, der sie sofort in die Klinik einwies. Die Diagnose lag nach wenigen Tagen vor. Ihre Reaktion darauf? Sie ließ ihre hüftlangen Locken auf Schulterlänge abschneiden. Nach ihrem zweiten Schub ließ die Betriebswirtin sich ein Tattoo stechen: „Destiny“ steht auf ihrem Arm zu lesen. Sie betrachtet die MS als ihr Schicksal, aus dem sie nun das Bestmögliche machen will.

„Wenn schon ein Cut, dann richtig“, berichtet die resolute junge Frau, „ich habe mich von meinem alten Ich getrennt, habe den Reset-Knopf gedrückt.“ War sie früher eher dem heimischen Schwarzwald verbunden, treibt es sie heute in die Welt hinaus. Ines hat sich zum Ziel gesetzt, die Hauptstädte aller europäischen Länder zu besuchen. Im April auf der Liste: Dublin. Immer mit dabei ist ihre umfangreiche Reiseapotheke, von der bei Bedarf auch ihre Freundinnen profitieren.

Erfolgsrezept gegen Fatigue: Sport statt Couch

Ihr Vollzeitjob als Buchhalterin gibt ihr finanzielle Sicherheit, die emotionale Seite wird von ihrer Familie und ihren Freunden abgedeckt, die voll hinter ihr stehen. Auch bei ihrem Neurologen fühlt sie sich gut aufgehoben und medikamentös gut eingestellt. Die Infusion mit Natalizumab alle sechs Wochen setzt die Frühaufsteherin zwar für einen Tag außer Gefecht, aber am Tag darauf ist sie wieder auf dem Posten und bei der Arbeit. Ihr Zaubermittel gegen die Fatigue ist Sport, besonders Fitnesstraining im Studio und Schwimmen. Manchmal muss sie sich mit ihrem inneren Schweinehund anlegen und fühlt sich nach dem Sport wunderbar. Manchmal muss sie die Zügel locker lassen, die Grenzen akzeptieren, die ihr Körper ihr setzt – ein stetiger Prozess der Achtsamkeit und Fokussierung auf sich selbst.

Vom ursprünglichen Plan Masterabschluss ist sie inzwischen abgerückt, um sich nicht erneut dem Prüfungsstress auszusetzen. Dass sich ihre frühere Idealvorstellung „mit 25 verheiratet, Haus und Familie“ nicht realisieren ließ, stört sie nicht. Ihr Leben sei auch ohne eigene Familie und mit MS sehr erfüllt, sie sei vollkommen bei sich angekommen, so die Weltenbummlerin.

„Hilfe annehmen – Hilfe geben“

Dies gelingt laut beiden jungen Frauen am besten auf Augenhöhe in einer Gruppe von Gleichaltrigen. Beide wollen sie Anlaufstelle für junge Menschen mit MS mit ihren altersspezifischen Fragen sein und ihnen helfen, ihren persönlichen Weg mit der MS zu finden. Begeistert sind beide vom U30-Camp der AMSEL als tollem Forum für persönliche Begegnungen. Initiieren möchten sie mehr Wochenendveranstaltungen für junge Betroffene, die Beruf und Krankheit zeitlich unter einen Hut bringen müssen. Gerade für die Jungen seien digitale Informationsangebote wie die der AMSEL und Messenger-Gruppen mit niedriger Hemmschwelle, z. B. auch die Facebook-Gruppe der AMSEL, die idealen ergänzenden Formate für einen unkomplizierten, effizienten Austausch. Von der integrativen Kraft der MS sind beide überzeugt.

„Dass die Diagnose im ersten Augenblick niederschmetternd ist, da gibt es nichts zu beschönigen. Aber die Community schweißt zusammen, und im Dialog lassen sich Wege finden, die für jeden individuell passen und das Leben mit der MS erleichtern“, so das einstimmige Credo der beiden Sprecherinnen der Jungen Initiative Ortenaukreis.

Übrigens: Über Chiara und Ines hatte amsel.de schon einmal kurz berichtet, im Rahmen der Seite für frisch diagnostizierte Menschen mit Multipler Sklerose "Sie haben Multiple Sklerose."

Quelle: together 01.23

Redaktion: AMSEL e.V., 07.08.2023