Im ersten Teil von Andreas' Lebensgeschichte – "Spitzendesign mit Hindernissen" –berichtete amsel.de über seinen Traumberuf "Kunstphysiker", die Anfänge als Designer, seine Familie, seine Diagnose und den schweren Verlauf seiner MS. Hier, im zweiten Teil, geht es darum, welche (technischen) Hilfsmittel Andreas nutzt, um trotz EDSS 9 weiter kreativ arbeiten zu können. Und wie er AMSEL e.V. und andere MS-Erkrankte damit unterstützt.
Küsschen für den Bildschirm
Die Liebe seiner Frau Yvonne und seiner Kinder, Respekt und Wertschätzung im täglichen Miteinander sind Andreas die größte Stütze, gefolgt von den technischen Raffinessen seiner Hilfsmittel, die er zum Teil selbst (mit-) erfunden und konstruiert hat.
Das fängt an bei seinen Smart Home-Helferlein, an erster Stelle seiner Sprachassistentin, die ihm viele Handgriffe abnehmen kann. Dann sein hauseigenes Computernetzwerk. Andreas hat auch im Schlafzimmer eine Workstation, damit er an schlechten Tagen vom Bett aus arbeiten kann. Ein selbst konzipierter Adapter ermöglicht es ihm, die Fernsteuerung seines Pflegebetts via Smart Home-Technik und Bildschirm zu betätigen, obwohl er aufgrund seiner Lähmung nicht in der Lage ist, selbst noch irgendeinen Knopf zu drücken. Zum Einschalten seiner Computer per Knopfdruck hat er einen „Smart Bot“ konstruiert und von einer benachbarten Firma per 3D-Druck produzieren lassen: Darunter muss man sich ein Kästchen vorstellen, das auf Befehl eine Art Finger ausfährt, der die Starttaste des PCs drückt.
Das Kernstück seines Arbeitsplatzes steht im Wohnzimmer: Ein riesiger Bildschirm, auf dem Andreas in seinen 3D-Konstruktionsprogrammen via Gesichtserkennung navigiert. Die Kamera registriert seine Mimik und Gestik, mit Kopf- und Augenbewegungen wählt er aus den Auswahlmenüs aus. Wie er die Befehle bestätigt, Okay klickt? Mit gespitzten Lippen schickt er ein Küsschen Richtung Bildschirm. Yvonne ist immer wieder fasziniert, mit welcher Präzision er auch feinste Linien und Punkte auf dem Bildschirm ansteuert, um sie zu bearbeiten.
Es habe schon einiger Übung und vieler Fehlschläge bedurft, räumt der Tüftler ein. Aber Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit und Willensstärke sind ohnehin seine wichtigsten Charaktermerkmale, da sind sich beide – Yvonne mit einem Augenzwinkern – einig. Früher sagte man, Design ohne Hände sei undenkbar. Dank der modernen Hilfsmittel hat Andreas den Gegenbeweis geliefert. Seine Pluspunkte: Er hat Design von der Pike auf gelernt, hat ein sehr ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen, und das, was er mit seinen Händen nicht mehr kann, macht er mit seinem Kopf. Beim Anblick der feinen Konstruktionslinien auf dem Bildschirm „spürt“ er die Haptik eines Gegenstands, hat eine sinnliche Wahrnehmung der Form und Oberflächen. Heute designt Andreas wie eh und je, er beherrscht alle Kniffe der Konstruktion. Es dauert nur eben zwei bis drei Mal so lang wie früher.
Erfolgsgeschichte einer Wanduhr
Großes Verständnis dafür zeigt sein Geschäftspartner Axel Dostmann. Nach mehr als zweihundert erfolgreich abgeschlossenen Projekten kam der vor einiger Zeit mit einem neuen Auftrag auf Andreas zu. Er schickte ihm per Post eine Art großen Pizzakarton, darin eine Wanduhr, mit dem Auftrag, die Uhr komplett zu überarbeiten. Was dem „Kunstphysiker“ als erstes missfiel, war die Verpackung: zu groß, zu unhandlich, zu wenig nachhaltig. Alles andere als umweltschonend.
Die Idee zur „Clock in the Box“ war geboren, eine modulare Wanduhr in klarem puristischem Design, die in Einzelteilen in einer kleinen Schachtel geliefert wird. Es brauchte nicht viel, um seinen Freund Axel davon zu überzeugen. Die Uhr wurde produziert und Axel hatte die Idee, vom Erlös je einen Euro einem wohltätigen Zweck zukommen zu lassen, den Andreas auswählen sollte. Für ihn eine klare Entscheidung, denn vor Jahren war er über seinen alten Studienfreund und dessen Partnerin zur AMSEL gekommen: Diese Spende soll an die AMSEL gehen. Die erste Überweisung ist bereits eingegangen.
Selbständigkeit auf allen Ebenen
Andreas liegt viel an seiner Selbständigkeit, beruflich wie auch persönlich, und das ist täglich eine Herausforderung. Nicht umsonst sagt er, sein Beruf sei sein Hobby, andere Hobbies brauche er nicht. Um seinen Beruf auch nach der MS-Diagnose uneingeschränkt weiter ausüben zu können, hat er bis heute auf Erwerbsminderungsrente verzichtet, um Reha-Maßnahmen und Kostenbeteiligung der Versicherungsträger an seinen Hilfsmitteln gekämpft. Mit seinem hohen Behinderungsgrad (EDSS 9 und Pflegegrad 5 nach jüngstem Gutachten) bei gleichzeitiger Berufstätigkeit fällt er durch sämtliche Raster. Aber das ist ihm seine Selbständigkeit wert.
Von Ruhestand keine Spur, denn Andreas verspürt eine enorme Kreativität, hat den Kopf voller neuer Ideen und Projekte. Ein weiterer Baustein für seine persönliche Selbständigkeit wäre ein Roboterarm, der am Rollstuhl montiert werden kann. Der Roboterarm soll seinen gelähmten Arm ersetzen und ihm bspw. seine Brille aufsetzen können, die er braucht, um seinen Rollstuhl zu steuern. Das ist im Moment noch eine Aufgabe, zu der er die Hilfe einer anderen Person braucht. Gerade wartet Andreas auf den hoffentlich positiven Bescheid seiner Krankenkasse.
Kraft schöpft Andreas aus der Gewissheit, dass alles immer irgendwie funktioniert und er sich auf sein persönliches Umfeld verlassen kann. Daher auch seine Zuversicht: „Was mir die Zukunft bringen mag? Da lasse ich mich gerne positiv überraschen“, sagt er und tut weiter sein Möglichstes, damit sich solche Überraschungen ereignen.
Nachtrag: Kurz nach Onlinestellung dieses Beitrages brachte Andreas der AMSEL-Onlineredaktion eine frohe Nachricht: Er hat einen Designpreis für Clock in the box erhalten.
AMSEL bedankt sich herzlich bei Andreas und bei der Firma TFA Dostmann für ihren persönlichen Einsatz und die Beteiligung am Erlös der Wanduhr "Clock in the box".
Redaktion: AMSEL e.V., 05.04.2024