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Spitzendesign mit Hindernissen - Andreas: Teil 1

Andreas kann man als Mutmacher par excellence bezeichnen. Trotz schwerster Behinderung durch seine MS meistert er nicht nur sein Leben – mit der Hilfe seiner Frau Yvonne und zweier privater Pflegerinnen. Statt zu resignieren, arbeitet der Unruhegeist weiter als Designer und stiftet nebenbei einen Mehrwert für die AMSEL und ihre Mitglieder.

Dass man hier in eine künstlerische Umgebung kommt, spürt man sofort, wenn man das Haus von Andreas und Yvonne in einem verschlafenen kleinen Ort vor den Toren Pforzheims betritt. Dass es nicht nur aus ästhetischen Gründen sparsam, aber wirkungsvoll eingerichtet ist, wird klar, wenn man auf den Hausherrn trifft: Andreas braucht Raum für seinen Elektro-Rollstuhl, den er durch Kopfbewegungen steuert. Eine Brille mit Sensoren nimmt seine Bewegungen auf, die Software dahinter übersetzt sie in elektrische Signale, stellt so die Kommunikation mit der Mechanik des Rollstuhls her.

Die MS begann bei dem Produktdesigner im Alter von 38 Jahren schubförmig, ging dann schleichend in die sekundär progrediente Form über. Nach 15 Jahren musste er sich mit dem Rollstuhl „anfreunden“, nach 24 Jahren ist die Lähmung an seinen Schultern angekommen. Er kann die Arme nicht mehr bewegen. Heute ist Andreas 64, gilt als medikamentös austherapiert, wie ihm sein Neurologe eröffnete.  Ihm bleibt die symptomatische Therapie. Am Motomed lässt er sich möglichst täglich passiv durchbewegen, zweimal die Woche kommt der Physiotherapeut ins Haus, einmal die Logopädin. Außerdem schwört Andreas auf Osteopathie, die er als besonders wohltuend empfindet.

Daneben nutzt er alle Möglichkeiten, die technische Hilfsmittel heute bieten, angefangen bei Pflegebett, Deckenlifter, Aufzug an der Außenwand des Hauses, Lifter am großen Kastenwagen, den seine Frau fährt, bis hin zu einigen High Tech-Besonderheiten.

Neudiagnostizierten würde Andreas raten, die Krankheit anzunehmen, nicht nach Gründen zu fragen, sondern in die Aktion zu gehen, sich breit zu informieren und alle medizinischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Wäre nicht seine Familie gewesen, hätte er es in jungen Jahren mit einer Stammzelltherapie versucht. Damals war die Technologie noch weniger ausgereift, die Risiken sehr hoch, zu hoch für den Familienvater. Und heute ist es für ihn zu spät. Weiter, so seine persönliche Erfahrung, sollte man der MS nicht die Hauptrolle im Leben überlassen (was ihm in seiner Situation zunehmend schwerfällt), nichts aufschieben und vor allem: Das Leben nicht vergessen.

Traumberuf „Kunstphysiker“

Als Jugendlicher wollte Andreas “Kunstphysiker” werden, denn Kunst und Physik waren seine Lieblingsfächer im Gymnasium. Eine Berufsberatung brachte Klarheit in seine Vorstellungen, Andreas entschied sich für ein Studium an der Kunstakademie Stuttgart, Fachrichtung Produktdesign, eine Entscheidung, die er bis heute nicht bereut.

Sein großes Vorbild ist Leonardo da Vinci, dessen Schaffen ihn sehr geprägt hat. Als Freigeist wie Leonardo, versucht Andreas, den Dingen auf den Grund zu gehen, vorhandene Sichtweisen zu hinterfragen, bestehende Techniken zu verfeinern und damit bspw. Alltagsprodukte zu optimieren oder ganz neu zu kreieren. Eine neue Mona Lisa hat er dabei nicht im Visier, er konzentriert sich eher auf Produkte des täglichen Lebens, mit praktischem Nutzen. Mitte der 1990er Jahre machte sich Andreas mit einem eigenen Designbüro in Stuttgart selbständig. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Andreas arbeitete für bekannte Marken. Für eine formschöne Thermoskanne mit zwei integrierten Trinkbechern räumte er 1997 einen namhaften Designpreis ab.

Zusammen mit seiner Frau Yvonne war Andreas damals auf der Überholspur des Lebens: Er mit seinem erfolgreichen Designbüro, sie als Grundschullehrerin mit Lehrauftrag am Staatlichen Seminar für schulpraktische Ausbildung in Sindelfingen. Alles lief rund, bis er 1998 beim Joggen plötzlich einknickte, immer öfter stolperte und fiel.

Der Anfangsverdacht auf Bandscheibenvorfall wurde schnell revidiert, eine Liquordiagnostik brachte kurz darauf die Diagnose MS. Andreas war 38, seine älteste Tochter gerade ein halbes Jahr alt. Kurz zuvor hatte er sich bei einer international bekannten Firma aus dem Taubertal mit ersten Projekten bewiesen. Entstanden ist daraus nicht nur eine Geschäftspartnerschaft, sondern eine Freundschaft mit dem Geschäftsführer Axel Dostmann. Beide dauern bis heute an. Aber dazu später mehr.

Von der Expansion zurück zum Einzelkämpfer

Dass es keinen Sinn machte, mit seinem Designbüro wie geplant zu expandieren, war Andreas sofort klar. Im Gegenteil, er musste eher reduzieren, sein Leben komplett neu strukturieren, um seine Kräfte möglichst stressfrei und gezielt einsetzen und seine Leidenschaft für Design weiter leben zu können. Er entschloss sich, es als Einzelkämpfer zu versuchen. Der Erfolg gab ihm recht. Immer an seiner Seite, seine Frau Yvonne. Die beiden sind demnächst 30 Jahre verheiratet, haben zwei Töchter und einen Sohn, alle in Studium oder Ausbildung. Andreas hatte Bedenken, ob er als Vater dreier Kinder lange genug „funktionieren“ würde.

Das Paar ging das Risiko ein, obwohl absehbar war, dass Yvonne einen Großteil der Alltagsbewältigung würde übernehmen müssen, zusätzlich zu ihrem vollen Deputat an der Grundschule im Nachbarort. Dass sie den Löwenanteil seiner Pflege übernimmt, täglich, sieben Tage die Woche, dafür ist er ihr zutiefst dankbar. Die Kinder sollen mit der Pflege nach Möglichkeit nicht belastet werden, sind sich beide einig. Wie Yvonne sind sie in die Situation hinein- und mit ihr gewachsen. Andreas ist überzeugt, dass seine Krankheit die Kinder sogar stark gemacht hat für das Leben. Die Liebe seiner Frau und seiner Kinder, Respekt und Wertschätzung im täglichen Miteinander sind ihm die größte Stütze, gefolgt von den technischen Raffinessen seiner Hilfsmittel, die er zum Teil selbst erfunden und konstruiert hat.

In Kürze gibt es auf amsel.de mehr zu erfahren, über den "Kunstphysiker" Andreas. Darüber, wie und mit welchen Hilfsmitteln er trotz seiner sehr einschränkenden MS weiter als Designer arbeitet und wie er damit anderen Menschen mit Multipler Sklerose hilft.

AMSEL bedankt sich herzlich bei Andreas und Yvonne für ihren persönlichen Einsatz. Dank geht außerdem an die Firma TFA Dostmann für die Beteiligung am Erlös der Wanduhr "Clock in the box".

Redaktion: AMSEL e.V., 25.03.2024