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Pflege-Symposium, erster Teil

24.11.08 - Begeisternde Referenten, engagierte Teilnehmer und ein stimmungsvolles Abendprogramm - so lautet die schöne Bilanz zum AMSEL-Symposium "Alltagsbewältigung bei MS" am vergangenen Samstag.

Das Thema Pflege ist so vielschichtig wie spannend. Dies jedenfalls zeigte das AMSEL-Symposium "Alltagsbewältigung bei MS" am Samstag, 22. November 2008 mit rund 150 Teilnehmern. 8 hochkompetente Referenten widmeten sich vielerlei Aspekten. - Hier stehen heute Spastik und Schmerz sowie Blasen- und Darmprobleme an. Doch zuerst zum Symposium als Ganzes:

Der mündige Patient

Und ob es nun um Spastik und Schmerzen bei MS geht, um die "unaussprechlichen" Blasen- und Darmstörungen, um Physiotherapie und Pflege, den Rollstuhl oder die Pflegeversicherung: Das Symposium deckte eine große Palette an Pflegethemen ab und bot vor allem auch viel Raum für Rückfragen an die Experten. Gerade das hochmotivierte Publikum, die wissenden wie interessierten Beiträge seitens der Besucher, ob selbst betroffen oder pflegend, machten den Tag zum Erfolg. Und zeigten, dass ein mündiger Patient immer als neugieriger Patient beginnt.

Das Symposium selbst begann mit der Begrüßung durch Peter Koch, den Vorsitzenden der AMSEL, der nicht nur alle Teilnehmer und Referenten herzlich willkommen hieß, sondern auch die Gelegenheit nutzte, einmal mehr darauf hinzuweisen, dass er - schon seit einiger Zeit - kein Mitarbeiter einer pharmazeutischen Firma mehr sei. Hintergrund dafür ist der Umstand, dass sich manche Gerüchte im Netz besonders lange halten. Dies gilt im Fall von Personen wie im Fall von Nachrichten: PD Dr. Peter Flachenecker führte in das Pflegesymposium ein, wies jedoch zuvor, auch zum wiederholten Male, darauf hin, was von Schlagzeilen über einen Wirkstoff zu halten ist, der die MS "nahezu heilen" soll (AMSEL.DE hat berichtet). - Doch nun zu den ersten beiden Vorträgen:

SPASTIK UND SCHMERZEN

Spastik und Schmerzen seien ein "letztlich unterbelichtetes und zu wenig beachtetes Thema", so Prof. Horst Wiethölter. Rund 20% aller MS-Betroffenen litten unter Schmerzen - lediglich 30% davon würden auch behandelt. Bei deutlicher Spastik sieht die Bilanz ein wenig besser aus: Rund ein Drittel ist betroffen - 60% der spastischen Patienten werden auch behandelt.

Wie Gasgeben und Bremsen gleichzeitig müsse man sich etwa die Spastik vorstellen, so der Ärztliche Direktor der Neurologischen Klinik am Bürgerhospital in Stuttgart. Das Vermeiden auslösender Faktoren (etwa eine volle Blase, eine falsche Haltung) und die Krankengymnastik stehen noch vor einem möglichen Einsatz von Medikamenten, die nach einer Stufentherapie dem individuellen Bedarf angepasst verschrieben werden und durchaus einen Balanceakt, ein Ausprobieren mit sich bringen können.

Cannabis bald auch in Deutschland?

Die Cannabis-Präparate seien noch nicht zugelassen, so Prof. Horst Wiethölter, er könne sich das aber in Zukunft auch in Deutschland vorstellen. Die Besonderheit daran: Es gäbe offensichtlich Patienten, bei denen sie wirkten und solche, die nicht darauf ansprächen. Freilich sei aber noch genauer zu untersuchen, ob die Cannabisextrakte tatsächlich die Spastik reduzierten oder dem Patienten lediglich den Eindruck vermittelten.

Schmerzen lassen sich nicht nach einer eskalierenden Stufentherapie behandeln; hier kommt es sehr auf die Schmerzursache an. Je nachdem, ob es sich um Neuralgien (also direkte Folge der MS) handelt oder um indirekte, ob die Schmerzen anhaltend oder wiederkehrend sind, stehen ganz unterschiedliche Präparate zur Verfügung.

Besonders "ekelhaft", so Prof. Wiethölter seien die einschießenden Schmerzen, und die Frage eines Symposiumsteilnehmers, ob er das richtig verstanden habe, dass einschießende Schmerzen den umgekehrten Weg gingen, bejahte Prof. Wiethölter. In der Tat sei der Auslöser eben nicht am Bein oder im Gesicht, sondern werde durch Fehlschaltung vom Gehirn aus gesteuert und dorthin geleitet.

BLASEN- UND DARMSTÖRUNGEN

Ein Thema, über das keiner gerne spricht - Dr. Martin Rösener tat es trotzdem. Mit riesigem Erfolg, auf so unkomplizierte wie beherzte Art brachte der Stuttgarter Neurologe seinen Zuhörern das Thema Blasen- und Darmstörungen nahe, schließlich sind 75 bis 90% der MS-Errankten davon betroffen. Leider gehen die wenigsten davon ihr Problem richtig an, sei es aus Scham oder aus der Furcht heraus, da könne man eh nichts mehr machen.

"Patienten gehen teilweise nicht mehr aus dem Haus, ohne zu wissen, wo die nächste Toilette ist", ihre Stadtpläne bestünden aus WC-Zeichen. Zwei wichtige Hinweise hier: Es gibt den "Locus" in Buchform, der sämtliche öffentlichen Toiletten auflistet und es gibt einen Behinderten-WC-Schlüssel, den man kaufen kann, um auch in die verschlossen Klos zu gelangen.

Normalerweise ist der Hohlmuskel hinten (die Blase selbst) entspannt, der Schließmuskel vorn angespannt - "Das machen wir gerade", so der humorvolle Neurologe zu den Gästen des Symposiums.

Blasenprobleme bei MS haben vor allem zwei Ursachen: Entweder der Hohlmuskel ist nicht entspannt, wie sie es im Normalzustand sein sollte, das heißt, Patienten "müssen" ständig oder der Restharn fließt in die Nieren zurück, was zu Infekten führen kann, oder aber der Schließmuskel vorn, normalerweise angespannt, also "zu", schließt nicht richtig. Die Folge: Inkontinenz.

Wasserlassen: eine koordinierte Aktion

Auch eine Kombination davon ist möglich und führt zu Problemen auf der Toilette oder zwischen den Gängen dorthin. Die Diagnose sei ungeheur wichtig, wenngleich teils etwas kompliziert, was leicht verständlich ist, schließlich handelt es sich bei Wechsel zwischen Normalzustand und Wasserlassen um eine komplexe koordinierte Aktion.

Viel Trinken oder den Harn mit Cranberrysaft ansäuern kann Infekte verhindern, gegen die Blasenstörungen selbst helfen Antispastika, geplante Toilettengänge und Beckenbodentraining. Nützt dies nichts könenn auch Medikamente zum Einsatz kommen, die sehr fein dosiert sein müssen, um etwa bei Hohlmuskelentspannern nicht Restharn und damit zu begünstigen. Klopfen und Vibrationen helfen bei Entleerungsstörungen (keinesfalls jedoch pressen oder quetschen!).

Die Hilfsmittel bei Blasenstörungen sind besonders verpönt - aber auch besonders wertvoll, wie Dr. Martin Rösener eindrücklich schilderte. Allein das intermittierende Einmalkatheterisieren sei leicht zu erlernen und löse viele Probleme. Er habe Patientinnen, die das binnen fünf Minuten auf jeder öffentlichen Toilette könnten. Der Riesenvorteil an dem einführbaren Schlauch: Die Blase ist völlig frei von Restharn und man hat danach eine beruhigte Zeit ohne Angst vor Blamagen, ohne angespanntes Suchen nach einem WC, sprich: einfach Lebensqualität.

Hilfsmittel, ganz ungeniert

Auch Tena-Einlagen gehören zum wirklich brauchbaren Equipment eines Menschen mit schwacher Blase: Im Unterschied zu anderen Slipeinlagen enthalten sie nämlich ein geruchsbindendes Gel, das die Feuchtigkeit wegsaugt. Einen Lacher kassierte der entertainende Neurologe beim Thema "Kondom-Urinal" - wie er das wohl demonstrieren wolle, fragten sich jetzt bestimmt alle... - ohne mit der Wimper zu zucken, fasste er in seine Jackett-Innentasche und entnahm ihr eine anatomiegetreue Plastik-Nachbildung. Der Unterschied zum normalen Kondom sei lediglich der, dass dies hier klebe. An die Öffnung unten kommt dann ein Schlauchende; der Beutel wieder werde - unsichtbar für andere - unterm Hosenbein getragen.

Dr. Martin Rösener stellte verschiedene Hilfsmittel bis hin zum Dauerkatheder vor. Für Nicht-Betroffene mag das alles erst einmal fürchterlich klingen - Betroffenen jedoch schenken diese praktischen Lösungen mehr Lebensqualität.

Der Nachbar muss es ja nicht wissen...

Auch die unterschiedlichen Darmprobleme bei MS - "ein Thema, über das die Leute noch weniger gerne sprechen" - erläuterte der Neurologe und Sympathieträger so kompetent wie tabulos: Trinken, Bewegen, Ballaststoffe, Physiotherapie und Einläufe können bei Verstopfung helfen, bevor man zu Medikamenten greift. Auch der Stuhlinkontinenz kann man mit Training, Nahrungsumstellung und Einläufen begegnen.

Als Hilfsmittel gibt es auch hier Einlagen und - "das werden Sie ihrem Nachbarn nicht erzählen", scherzte Dr- Rösener - den Analtampon, der funktioniert wie ein Regeltampon, nur hinten. Einfach einschieben "und dann ist erst mal dicht".

Redaktion: AMSEL e.V., 10.12.2008