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MS-Update für Ärzte, Teil 2: Schmerzen, palliative Hilfe und Fahrtauglichkeit

Was man tun kann bei Schmerzen und MS, ab wann palliative Unterstützung sinnvoll ist und welche Pflichten Ärzte in puncto Fahrtauglichkeit haben - darum ging es im zweiten Teil des AMSEL-Symposiums für Mediziner. Wichtige, auch alltagsrelevante Themen für die Praxis.

"Multiple Sklerose 2023: Was gibt es Neues" lautete der Titel des 10. AMSEL-Symposiums für Ärzte. Rund 100 Teilnehmer kamen zu der Hybrid-Veranstaltung, darunter Dr. med. Achim Wannenmacher, niedergelassener Neurologe in einer Gemeinschaftspraxis in Stuttgart: "Was mich hierherführt, ist, dass ich mich immer wieder auf den aktuellen Stand bringen möchte." Ihn haben die interessanten Referenten und Themen ins Mövenpick-Hotel am Flughafen gelockt. Für Wannenmacher als Stuttgarter ein Heimspiel, doch es kamen auch Interessierte aus Berlin, Brandenburg, Cuxhaven und Wilhelmshaven.

Hier alle sechs Vorträge des AMSEL-Symposiums. Über die ersten drei hatte amsel.de bereits berichtet; die übrigen drei folgen unten:

Ein für viele Patienten wichtiges Thema sind Schmerzen bei Multipler Sklerose, so Prof. Peter Flachenecker, der das Symposium fachkundig moderierte. Nicht jeder hat sie, aber wenn doch, dann bedürfen Schmerzen bei MS oft einer speziellen Behandlung. Denn mit Aspirin oder ähnlichem kommt man bei neuralgischen Schmerzen nicht weit.

Schmerzen bei MS: Ist das relevant?

„Schmerz ist ein entscheidendes Symptom der MS“, konstatierte Prof. Dr. med. Ingo Kleiter, Ärztlicher Leiter und Medizinischer Geschäftsführer der Marianne-Strauß-Klinik in Berg im anschließenden Vortrag. Schmerz stehe bei allen Verlaufsformen an fünfter Stelle der häufigsten Symptome von MS-Patienten und beeinträchtige die Lebensqualität erheblich. Schmerz sei eine individuelle Erfahrung, die von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beeinflusst werde.

In Zusammenhang mit MS unterscheide man drei Schmerzkategorien:

  • direkte Folge der ZNS-Schädigung (z. B. Neuralgien),
  • indirekte Folge von MS-Symptomen oder -Therapie (z. B. Muskelschmerzen infolge von Spastik) und
  • mit MS assoziierte Schmerzen (z. B. Kopfschmerzen).

Schmerzanamnese und die Arbeit mit Fragebögen und Schmerzskalen stünden am Anfang jeder Schmerztherapie, so Prof. Kleiter. Therapieempfehlungen des zentralen neuropathischen Schmerzes fänden sich unter anderem in der DGN-Leitlinie, allerdings könne trotz medikamentöser Therapie oft keine Schmerzfreiheit, sondern eher eine Schmerzreduktion erreicht werden.

Die eingesetzten Medikamente reichten von Antidepressiva über Antiepileptika, lokal angewandte Medikamente und Opiode bis hin zu Cannabinoiden. Es müsse dabei engmaschig beobachtet werden, ob der Patient von der Therapie profitiere oder ob sich bereits gravierende Nebenwirkungen durch die Medikamente zeigten. Kleiter stellte weitere Symptome wie Trigeminusneuralgie oder Spastik und ihre Behandlungsmöglichkeiten vor. Typisch für die sehr schmerzhafte Trigeminusneuralgie bei MS sei, dass sie oft nicht in direkter Folge nach der ursächlichen Läsion auftrete, sondern beispielsweise erst zehn Jahre danach. Das habe eine aktuelle Studie ergeben. Operative Verfahren können neben medikamentösen Therapien teilweise eingesetzt werden, vor allem die Thermokoagulation, jedoch lasse die Wirkung oft nach wenigen Jahren nach. Kleiter ergänzte: „Bei chronischen Schmerzen helfen Einzelmaßnahmen in der Regel nicht. Sie sollten multimodal in Schmerzzentren von einem interdisziplinären Team therapiert werden.“

Auf Cannabis einzugehen, habe der Ärztliche Leiter der Klinik Berg absichtlich ausgelassen, gesteht er auf eine Frage aus dem Publikum. Cannabis und Cannabinoide seien ein zu weites Feld und hätten den zeitlichen Rahmen hier gesprengt. Sowohl er als auch Prof. Flachenecker setzen vor allem Sativex und Dronabinol bei Spastik ein. Für einen weiteren Einsatz, speziell der "Blüten und Kekse" fehlten jedoch randomisierte Studien.

Palliativmedizin und MS: (Wie) passt das zusammen?

Ähnlich wie die Schmerztherapie sei auch die Palliativmedizin multimodal angelegt, erklärte Dr. med. Veronika Dunkl, Fachärztin für Neurologie am Zentrum für Palliativmedizin des Universitätsklinikums Köln in ihrem Beitrag. Sie nutzte die virtuelle Welt (und die gute WLAN-Verbindung vor Ort), indem sie die Symposiumsteilnehmer aufforderte, ihr online eine Frage zu beantworten, nämlich: "Was assoziieren Sie mit "palliativ" bzw. mit "Palliativmedizin"?" Am Ende des Vortrags würde sie das Ergebnis vorstellen.

Die Leitlinie MS (2023) beinhalte erstmalig auch die Palliativmedizin, so die Kölner Neurologin. Diese sei angezeigt bei Patienten mit einer progredienten und fortgeschrittenen MS sowie mit beeinträchtigenden Symptomen und Beschwerden, die zu ausgeprägten und komplexen funktionellen Einschränkungen führen. Palliativmedizin versuche, alle Dimensionen des multidimensionalen Leidens (körperlich, psychisch, spirituell, sozial) mitzubehandeln, und zwar „nicht allein im Rahmen des Sterbeprozesses, sondern auch bei nicht absehbarem Lebensende“, so die Fachärztin.

Eine Studie von Temel et.al. hätte 2010 am Beispiel des kleinzelligen Bronchialkarzinoms gezeigt, dass sich bei frühzeitiger palliativer Behandlung Lebensqualität, Gesamtüberleben, Symptomlast und auch die Zufriedenheit der Versorgenden erhöhten. Eine aktuelle tschechische Studie (Buzgová et al. 2021) zeige überdies, dass sich die Arzt-Patienten-Beziehung und die Krankheitsbewältigung bei den palliativ versorgten Erkrankten deutlich verbesserten. Die Behandlung erfolge in einem multiprofessionellen Team, sei symptomorientiert und beziehe Angehörige mit ein.

Wichtig sei, den Patienten deutlich zu machen, dass Palliativmedizin nicht das Ende bedeute, sondern dass sie im Sinne einer „early integration“ an dem Punkt, wo Immuntherapeutika eskaliert werden oder multiple Symptome wie Schmerzen und Schlafstörungen auftreten, die Patientinnen und Patienten unterstütze, damit es ihnen besser geht. Es gäbe diesbezüglich noch viel Aufklärungsbedarf, konstatierte Dr. Dunkl. Im weitesten Sinne sei auch die symptomatische Medizin palliativ, ergänzte Prof. Peter Flachenecker.

Über die Beiträge zur Wortwolke auf ihre Frage eingangs ihres Vortrags hin zeigte sich Dunkl erfreut. Sehr breit seien die Antworten 2023 in Stuttgart ausgefallen, auch Symptomkontrolle, multidisziplinär und intensive Unterstützung seien darunter. Noch 2014 hätte eine solche Umfrage, unter Ärzten wohlgemerkt, nicht unter Laien, die Begleitung von onkologischen Patienten in der Sterbephase viel deutlicher in den Vordergrund gerückt.

Auf eine Frage aus dem Chat hin, an wen man sich denn wenden solle, um sich zu informieren, ob für einen selbst oder einen Angehörigen palliative Versorgung infrage käme, antwortet Dunkl: an das Beratungstelefon des Palliativnetzes Köln.

Fahreignung bei MS: Wie diagnostizieren – wie kommunizieren?

Im Abschlussvortrag des Symposiums zeigte Heike Meißner, Klinische Neuropsychologin GNP und Psychologische Psychotherapeutin am Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof in Bad Wildbad Wege aus dem Aufklärungs- und Beratungsdilemma des Arztes hinsichtlich der Fahreignung seiner MS-Patienten.

Zu den wichtigen Einflussgrößen auf die individuelle Fahrsicherheit gehörten Müdigkeit, Kognition, Sensorik, Motorik und Pharmaka – alles Punkte, die bei der Symptomatik MS-Erkrankter eine Rolle spielen können. „Die Pflicht zur Vorsorge im Verkehr obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen“, zitierte Meißner aus der Fahrerlaubnisverordnung und ergänzte: „An dieser Stelle kommt der Arzt mit ins Boot“.

Das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Autonomie müsse vom Arzt unter Berücksichtigung der Aufklärungspflicht (§ 630 e BGB) ausgelotet werden. In der verkehrspsychologischen Untersuchung würden verschiedene Parameter abgefragt, unter anderem Belastbarkeit unter Zeitdruck, Konzentrationsleistung, Reaktionsfähigkeit und visuelle Wahrnehmungsfähigkeit bzw. Orientierungsleistung. Bei Befunden im Grenzbereich biete sich eine längere Beobachtungsfahrt an, so die Neuropsychologin.

Viele klinische Symptome der MS könnten die Fahrsicherheit beeinträchtigen, dazu käme das persönlich Risikoverhalten der Patienten. Es sei für viele schwer, sich eine Fahruntauglichkeit einzugestehen und mit dem einhergehenden Autonomieverlust klarzukommen. Die gute Nachricht sei, es gäbe Möglichkeiten, bestehende Handicaps mit technischen Maßnahmen auszugleichen, etwa mit einer Automatikschaltung oder Multifunktionsdrehknöpfen. Allerdings sei eine Fahrzeugumrüstung sehr kostenintensiv, schloss die Expertin.

Aus dem Publikum kam die Frage auf, wann man denn die Fahrtauglichkeit beim Patienten ansprechen solle. Eher abwarten oder besser so früh wie möglich? Meißner sprach sich ganz klar für eine frühe Aufklärung des Patienten aus. Der Quellenhof, so Flachenecker, biete eine Menge an niederschwelligen Angeboten für Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen an, um sich genau über das Thema Fahreignung zu informieren.

Prof. Flachenecker dankte im Anschluss allen Beteiligten für die umfassenden und bereichernden Einblicke in ihre Fachgebiete. Den teilnehmenden Ärzten gab er mit auf den Weg: „Ich hoffe, dass Sie einige hilfreiche neue Ansätze der individuellen, bedürfnisorientierten Behandlung und Begleitung ihrer MS-Patienten nach dem neuesten Stand der Wissenschaft mit nach Hause nehmen.“

Organisiert wurde das 10. Stuttgarter MS-Symposium von der AMSEL, Aktion Multiple Sklerose Erkrankter Landesverband der DMSG in Baden-Württemberg e.V., mit freundlicher Unterstützung durch Bristol Myers Squibb, Merck, Novartis, Roche, Hexal, teva sowie der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH.

Redaktion: AMSEL e.V., 13.10.2023