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MS-Update für Ärzte, Teil 1: "lebendige" Leitlinie, digitaler Zwilling und Stammzelltherapie

Sechs Vorträge und hundert Teilnehmer: Das Symposium „Multiple Sklerose 2023 – Was gibt es Neues?“ beleuchtete spezielle Fragen der täglichen Praxis und warf auch einen Blick in die Zukunft der Behandlung.

Man lernt nie aus. Das gilt auch für Ärzte. Darum lädt AMSEL regelmäßig zu Fortbildungen für Mediziner, ein, zuletzt Ende September zum insgesamt 10. AMSEL-Symposium Multiple Sklerose.

Prof. Dr. med. Peter Flachenecker begrüßte insgesamt 100 Teilnehmende im Mövenpick Airport Hotel in Stuttgart, davon 40 per Videokonferenz. Der Vorsitzende des Ärztlichen Beirats der AMSEL und Chefarzt im Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof in Bad Wildbad führte durch das Programm und verwies auch auf die Fachinformationen für Ärzte, das virtuelle Gehirn sowie die neue Internetseite und die Flyer für MS-Neuerkrankte.

Auf dem Programm standen sechs Vorträge mit anschließenden Fragerunden:

  • die neue MS-Leitlinie,
  • der digitale Zwilling,
  • die Stammzelltransplantation,
  • Schmerzen bei MS,
  • Palliativmedizin und
  • Fahreignung.

Hier Berichte zu den ersten drei Vorträgen; weitere Berichte folgen in den nächsten Tagen auf amsel.de.

Die neue MS-Leitlinie: Viel Lärm um nichts?

Los ging’s mit einem Rückblick: Prof. Dr. med. Achim Berthele, leitender Oberarzt am Klinikum rechts der Isar, TU München und Koordinator der MS-Leitlinie, nahm sein Publikum mit auf die „Reise“ durch die Kontroversen rund um die Leitlinie. Sie sei viel diskutiert worden, unter anderen in der Medical Tribune, der "Bildzeitung für Mediziner", wie Berthele scherzte. Inhaltlich war diese Diskussion wichtig, wenngleich sie nicht zu grundsätzlichen Änderungen führte.

Gut zu wissen: Eine Leitlinie ist kein medizinischer Standard, aber sie nähert sich diesem an, so Prof. Berthele. Sieben Jahre Arbeit und 21 Online-Konsultationsrunden waren nötig gewesen für die neue 230 Seiten lange Leitlinie. Kurz nach Erscheinen gab es eine Gegenposition der MS Konsensus Gruppe (MSTKG) in Der Nervenarzt. Bei genauerer Betrachtung zeigte sich, dass sich die Positionen vor allem im Wortlaut unterschieden, weniger inhaltlich – eben „viel Lärm um nichts“.

Der Kern der Diskussion, wohin die „Therapiereise“ geht, läge zwischen „hit hard and early“ und „treat to target“, also entweder von Beginn der Erkrankung an hochwirksame Medikamente ansetzen oder die Stärke der Medikamente im Verlauf anpassen. Leitlinienarbeit sei immer auch eine Gratwanderung zwischen klaren Behandlungsalgorithmen und Therapiefreiheit. Und sie erfordere kontinuierliche Anpassungen, an der nächsten Leitlinie werde bereits gearbeitet: „Es ist eine ‚living guideline‘“, so der Experte.

Was Patienten wie Ärzte oft verwirrt, sind Bezeichnungen: Früher startete man seine MS-Therapie oft mit der sogenannten "Basistherapie", mit Mitteln, also, die weniger stark wirken (und weniger starke Nebenwirkungen mit sich bringen können), um dann, falls die Krankheitsaktivität nicht genügend abnahm, auf stärkere Mittel (mit eventuell stärkeren Nebenwirkungen) umzusatteln, die "Eskalationstherapie". Die beiden Begriffe hört man auch heute noch, nur meint Basistherapie heute nicht notwendigerweise ein Präparat der Wirkungsamkeitskategorie 1. Man kann inzwischen auch höher einsteigen (je nach Krankheitsaktivität und akzeptiertem Nebenwirkungsrisiko), etwa mit Wirkungsrad 2 oder 3.

Multiple Sklerose 4.0: vom digitalen Biomarker zum digitalen Zwilling

Dass digital mehr bedeutet als nur Videosprechstunde und Chipkarte, zeigte Prof. Dr. med. Tjalf Ziemssen, Direktor des Zentrums für klinische Neurowissenschaften und stellvertretender Klinikdirektor der neurologischen Universitätsklinik Dresden. Viele medizinische, auswertbare Daten könnten heute mithilfe neuer Techniken noch individueller für MS-Patienten nutzbar gemacht werden. Ziel sei eine multimodale Datensammlung in Verbindung mit einem gut „gefütterten“ System.

Mit Konzepten des maschinellen Lernens könnten dann sogar wichtige Daten eruiert werden, nach denen ursprünglich gar nicht gesucht wurde. Prof. Ziemssen unterstrich die Bedeutung digitaler Unterstützung bei der symptomatischen Therapie. Im Zentrum in Dresden würden auf Basis einer jährlichen standardisierten Ganganalyse auf einem sogenannten Patienten-Dashboard die Werte und ihre Entwicklung grafisch dargestellt. „Wir nutzen Algorithmen und haben das System so trainiert, dass es uns schon sagt, wenn eine Verschlechterung eingetreten ist, auch wenn der Patient es selber noch nicht gemerkt hat“, so der Experte. Auch das Sturzrisiko könne prognostiziert werden.

Im eigens gegründeten MS Living Lab ließen sich diese und weitere Dinge experimentell umsetzen, z. B. eine Sprung- oder Sprachanalyse. Damit könne langfristig die Therapiequalität verbessert werden. Die Vision sei ein digitaler Zwilling des Patienten, mit einem Patienten-Pfad, der modulartig zusammengesetzt ist. Er strebe ein System an, in dem der Arzt mit dem Patienten gemeinsam im Cockpit sitzt und dieser Zugriff auf alle seine Daten hat, so Prof. Ziemssen. Die bisherigen Rückmeldungen dazu seien positiv, ergänzte er.

Eine Spielerei sei, dass es alle beteiligten Ärzte in Dresden auch als Avatar gäbe. Bei seinem Avatar hätten die Programmierer sogar persönliche Eigenheiten mit eingebaut, was die Patienten regelmäßig amüsiere. "Heute ist der original Ziemssen da", nicht sein Avatar, versichert der AI-affine Ziemssen den Teilnehmern im Vortragssaal.

Ob denn künftig die neurologische Untersuchung des Patienten überflüssig würde, möchte jemand aus dem Publikum wissen. Das glaubt Ziemssen nicht; vielmehr sei es mit den digitalen Mitteln möglich, mehr Daten in kürzerer Zeit zu erheben und auszuwerten und den Patienten direkt daran teilhaben zu lassen, also Diagnose und Behandlung zu verbessern. Als klassisch ausgebildete Neurologen dürften sie sich nicht dagegenstellen, sondern sollten die Entwicklung mitgestalten, auch, um dieses Feld nicht amerikanischen Großkonzernen zu überlassen.

Stammzelltransplantation bei MS: Überwiegt der Nutzen das Risiko?

Positives zu berichten hatte auch Prof. Dr. med. Christoph Heesen, Oberarzt und Leiter der MS-Ambulanz der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf. Die autologe homatopoetische Stammzelltransplantation (HSCT) sei ein Verfahren mit kalkulierbaren Risiken, wenn auch die Erfahrungen in Deutschland bislang unzureichend seien.

Kurz erklärt: Dem Patienten werden eigene Blutstammzellen entnommen und eingefroren. Nach einer hochdosierten Chemotherapie, die das blutbildende Gewebe zunächst zerstört, werden die Blutstammzellen aufgetaut und als Blutinfusion zurückgegeben. Das Immunsystem kann sich neu aufbauen. Prof. Heesen stellte in der Folge einige Studien vor, die Aussagen zur positiven Wirksamkeit der Stammzelltherapie hinsichtlich des Effekts auf Beeinträchtigungen und Krankheitssuppression getroffen haben. Das sei kein Beleg, dass dieses die beste MS-Therapie sein, aber zumindest ein Punkt, dem man weiter nachgehen sollte, erklärte er.

Eine Heilung verspricht jedoch auch die HSCT nicht. Meta-Studien hätten gezeigt, dass nach 2 Jahren noch 74 %, nach 5 Jahren noch 46 % der Patientinnen und Patienten progressionsfrei seien. Auch gibt es Studien, die zeigen, dass Ocrelizumab eine ähnliche Wirkung erziele. Wobei: Immerhin könne man (bei geeigneten Patienten) Jahre mit der Stammzelltherapie gewinnen.

Heesen betonte, dass registerbasierte Studien nur bedingt aussagekräftig seien, weil die Datenerhebungen teilweise unter komplett anderen zeitlichen und räumlichen Bedingungen erfolgt seien. „Wir vergleichen hier Äpfel mit Birnen“, so der Klinikleiter. Dennoch ließen sich folgende Aussagen treffen:

  • Risiken sind kalkulierbar, Nutzen bei hochentzündlicher MS < 10 Jahre, Lebensalter < 40 Jahre und EDSS < 6.0 vermutlich groß.
  • HSCT sollte Patienten mit aktiver RRMS, bei denen eine krankheitsmodifizierende Behandlung versagt, als Behandlung angeboten werden. Bei therapie-naiven Patienten mit rasch fortschreitender schwerer MS kann die HSCT als Behandlungsoption in Betracht gezogen werden.
  • Die Patienten sollten in spezialisierten Zentren mit geeigneten interdisziplinären Teams (Stammzellboard) und bestenfalls im Rahmen klinischer Studien (Minimum Register) erfolgen.
  • Unfruchtbarkeit als hohes Risiko muss mit den Patienten abgeklärt werden.
  • Bei rund Zweidrittel der Patienten übernimmt die Krankenkasse bisher die Kosten.

AMSEL: Fortbildung ist wichtig

"Wenn wir Hausärzte nicht richtig diagnostizieren, dauert es oft zwei bis drei Jahre bis zur Diagnose", ist Luljeta Gashi-Gerdung überzeugt. Darum findet sie solche AMSEL-Fortbildungen für Ärzte wichtig und folgte der Einladung gern. Die niedergelassene Hausärztin aus Fellbach hat viele MS-Patienten.

Mit einseitigen Schmerzen oder schlechtem Sehen kämen die Menschen oft als erstes zum Hausarzt. Wenn der nicht gleich reagiere und weitervermittele, verschwänden die Symptome meist von allein wieder und es dauere bis zum nächsten Schub, bevor die richtige Diagnose und eine passende Therapie gefunden würden. Darum sei diese MS-spezifische Fortbildung nicht nur für Fachärzte wichtig.

Organisiert wurde das 10. Stuttgarter MS-Symposium von der AMSEL, Aktion Multiple Sklerose Erkrankter Landesverband der DMSG in Baden-Württemberg e.V., mit freundlicher Unterstützung durch Bristol Myers Squibb, Merck, Novartis, Roche, Hexal, teva sowie der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH.

Redaktion: AMSEL e.V., 04.10.2023