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„Der Rollstuhl ist jetzt zu meinen Beinen geworden"

Wie es der 46-jährige Oliver Fleiner geschafft hat, mit Mut und Willenskraft zurück ins Leben zu finden und noch den Weltrekord im Rollstuhl-Rolltreppen-Fahren aufzustellen, zeigt das Together-Potrait 01/12.

Über 17 Jahre lang hat Oliver Fleiner bei einem führenden Automobilhersteller gearbeitet. Zunächst in der Motorenmontage, dann als Testfahrer. Auch in seiner Freizeit liebte er die Geschwindigkeit und fuhr leidenschaftlich gerne Motorrad. Doch im Alter von 29 Jahren traten beim Motorradfahren erstmals Doppelbilder auf, die zunehmend auch die berufliche Tätigkeit erschwerten. Nach einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt wurde Oliver mit unklarer Diagnose entlassen, mit Verdacht auf eine Nervenentzündung durch einen Zeckenbiss.

Ganze fünf Jahre – mit mehreren Ausfallerscheinungen und Rehaaufenthalten – dauerte es, bis eine zweite Diagnoseuntersuchung die Gewissheit brachte: Multiple Sklerose.

Die größte Enttäuschung wurde zur größten Chance

"Die sichere Diagnose war für mich eine große Erleichterung! Denn nun hatte ich die Möglichkeit, mich behandeln zu lassen. Es war schlimm, nicht vor dem Arbeitgeber rechtfertigen zu können, was los war. Jetzt konnte ich es." Als immer deutlicher wurde, dass er nicht weiter als Testfahrer arbeiten konnte, tauschte er den Fahrersitz gegen einen Bürostuhl. Der Kirchheimer absolvierte eine zweijährige Umschulung zum Bürokaufmann, um eine geeignete Qualifikation für die Stelle vorweisen zu können. Doch danach sah sein bisheriger Arbeitgeber plötzlich keine Möglichkeit mehr, ihn weiterhin einzusetzen – für Oliver der Fall in ein tiefes Loch. "Ich hatte Existenzängste, eine Familie mit Frau und Sohn zu ernähren und Angst vor der Arbeitslosigkeit, davor, dass das soziale Umfeld kippen könnte." Außerdem war der Familienvater enttäuscht, nicht beweisen zu können, dass man trotz MS leistungsfähig sein kann.

"Doch heute muss ich sagen, dass genau das meine große Chance war." Nachdem er bereits verrentet war, lernte Oliver während eines Rehaaufenthalts Willi kennen, der wegen eines Schlaganfalls auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Weil beide erkannten, dass es gemeinsam viel leichter ist, mit einer Behinderung umzugehen, gründeten sie den Verein Behindert-Barrierefrei und schufen eine Website, um Betroffenen eine Plattform zum Austausch, zur Information und Inspiration zu bieten. "Heute denke ich: ich habe das ganze Leben das Falsche gemacht, was den Beruf betrifft. Das soziale Engagement ist meine größte Erfüllung. Das, was man von den Menschen zurückbekommt, ist einfach unbezahlbar. Das hätte ich niemals erfahren, wenn mich die Firma damals zurückgenommen hätte."

Mit dem Rollstuhl zurück ins Leben

Der heute 46-Jährige liebt die Natur, ist gerne im Garten bei seinen 17 griechischen Landschildkröten, macht viele Ausflüge in den Wald, reist in ferne Länder und ist gerne in der Stadt unterwegs. Dinge, die immer schwieriger wurden, als seine Gehfähigkeit mit der Zeit nachließ, er öfter mal stolperte oder gar hinfiel. "Ich habe mich völlig zurückgezogen, weil ich Angst hatte, nicht mehr alles zu schaffen, ob das ein Besuch auf dem Volksfest war oder ein gemeinsames Treffen in der Stadt. Ich habe Vorwände gesucht, warum ich nicht mitkonnte. Da fing ich an, mich nach und nach mit dem Thema Rollstuhl auseinanderzusetzen. Doch am Anfang war dieser Gedanke für mich unvorstellbar."

Erst als Oliver in einer Reha von einer sehr guten Physiotherapeutin betreut und motiviert wurde, ein neues Modell auszuprobieren, spürte er, wie viel mehr Mobilität ihm ein Rollstuhl geben konnte. Doch zu Hause war die Hemmschwelle zu groß, ihn zu benutzen und sich damit Nachbarn, Freunden und der Familie zu präsentieren. "Ich hatte Angst davor, was sie denken, vor ihrem Unverständnis, weil ich ja doch noch einige Meter laufen konnte." Der Rollstuhl blieb dann ein halbes Jahr im Keller versteckt. "Nur meine Freundin wusste davon und sie war schließlich auch die treibende Kraft, die mich ermutigte, ihn wieder auszupacken und einen größeren Spaziergang zu wagen." Heimlich, ohne gesehen zu werden, wurde der Rollstuhl im Auto verstaut, um damit ins Grüne zu fahren. "Diese Ausflüge waren wie eine Kur – wohltuend und befreiend. Es war ein irres Gefühl, den Radius wieder zu erweitern."

Für Oliver war es ein langer und schwieriger Prozess, den Rollstuhl zu akzeptieren und sich mit ihm zu zeigen. "Doch heute steht fest: es war das Beste was mir passieren konnte. Jetzt habe ich wieder die absolute Freiheit. Der Rollstuhl ist jetzt zu meinen Beinen geworden. Und das ist ein unheimlich tolles Gefühl. Er gibt mir Mobilität und Lebensqualität." Lächelnd fügt er hinzu: "Jetzt sind es oft die Fußgänger, die langsamer sind".

Mobilität ist Teilhabe am Leben

"Mobilität ist das wichtigste im Leben. Ob dass das Auto ist, mit dem man einkaufen fahren kann, die S- und U-Bahn, um jemanden zu besuchen oder auch der Rollstuhl, der einen zum Arbeitsplatz bringt."

Jeden Tag ist Oliver mit seinem Rollstuhl zwischen 10 und 15 Kilometern unterwegs. Und sucht sportliche Herausforderungen, um sich fit zu halten – sei es ein Bergaufstieg mit Rollstuhl zum Gipfelkreuz des Nebelhorns oder ein Weltrekord-Versuch im Rollstuhl-Rolltreppenfahren. Mit Erfolg – mit insgesamt 18 Rollstuhlfahrern gleichzeitig auf zwei Rolltreppen verteilt, gelang ihnen der Weltrekord (www.amsel.de hat berichtet.) "Wir wollten zeigen, was wir bewegen können und wie viel Barrieren wir auch als Rollifahrer überwinden können."

"Es ist allerdings wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und zu finden – was tut mir noch gut und was nicht mehr. Aktiv sein heißt, die Kräfte zu mobilisieren, die man noch hat. Man sollte sich an dem orientieren, was man kann, nicht an dem, was man nicht kann."

Menschen zu treffen, sich mit ihnen auszutauschen und in Kontakt zu bleiben, ist dem lebenslustigen und sympathischen Mann sehr wichtig. "Oftmals hilft es, wenn man etwas mit jemanden zusammen machen kann, weil man sich manchmal nicht traut, alleine den ersten Schritt zu wagen. In einer Gruppe zu sein ist wichtig, dort entwickelt man sich weiter, geht auch mal über seine Grenzen hinaus. Wir können alle voneinander lernen." Das zeigt Oliver eindrucksvoll – mit zwei Freunden zusammen entwickelt der gebürtige Stuttgarter momentan einen eigenen Rollstuhl auf Segway-Basis, "also sozusagen ein Segway zum Sitzen". Und mit Vereinspartner Willi plant er dieses Jahr auch eine deutschlandweite "Inklusionstour". Sie möchten Aufklärungsarbeit leisten und einige Betriebe, Kindergärten und Hotels vorstellen, die Inklusion, also Akzeptanz und Integration Behinderter, bereits beispielhaft leben. Für Oliver zählt der Gedanke: Gemeinsam etwas erleben und bewegen.

"Ich sitze im Rollstuhl, aber ich brauche mich deswegen nicht zu verstecken, im Gegenteil: jetzt gibt es viele tolle Dinge, die ich mit Rollstuhl machen kann, die ich früher wahrscheinlich ohne nie hätte machen können." Und vielleicht schafft er es auch, sein Reiseziel Indien , wo er schon immer einmal hinwollte, zu verwirklichen, denn "möglich ist alles".

Redaktion: AMSEL e.V., 05.04.2012