Symptomatische Therapie

Ob Spastik oder Blasenstörung: Prof. Thomas Henze hatte beim ExpertenChat vom 19.10.04 für alle Fragen kompetente Antworten parat.

Moderator Patricia Fleischmann: Guten Abend, liebe AMSEL-Chatter! Multiple Sklerose hat eine Vielzahl von Symptomen, die ganz unterschiedlich therapiert werden können. Darum geht es heute in dieser Runde: Als Experten begrüße ich ganz herzlich Prof. Thomas Henze!

Sandra: Guten Abend Herr Prof. Henze, seit Mitte August leide ich an Taubheitsgefühlen an den Fingern, welche immer noch anhalten. Die Taubheitsgefühle an Fußsohlen und Oberkörper sind vorüber, jedoch spricht mein Neurologe immer noch von einer aktiven MS, da immer wieder Taubheitsgefühle bei Bewegung an den Oberschenkeln auftreten. Deshalt rät mir mein Neurologe zu einer Therapie mit Copaxone, die nächste Woche beginnen soll. Ist dies der richtige Weg?

Prof. Thomas Henze: Ebenfalls einen schönen guten Abend! Wenn die Taubheitsgefühle zuvor nicht bestanden hatten, handelt es sich wahrscheinlich um einen Schub. Dann hat Ihr Neurologe recht, wenn er von einer aktiven MS, also einer schubförmigen MS bei Ihnen spricht. Wenn dann noch das Kernspintomogramm entsprechende Kriterien aufweist, ist die Therapie mit Copaxone auf jeden Fall eine gute Behandlungsmöglichkeit, um weitere Schübe möglichst zu vermeiden.

Sandra: Ja, es wurden mehrere kleine Entzündungsherde im Kernspinntomographen festgestellt. Was ist der Vorteil bzw. warum wird hier eine Copaxone anstatt einer Interferon-Therapie gewählt?

Prof. Thomas Henze: Von der DMSG und ihrem Ärztlichen Beirat werden sowohl die Interferone als auch Copaxone als Medikamente angesehen, die bei schubförmigem Verlauf in etwa gleichartige Wirkungen haben. Sie unterscheiden sich in der Häufigkeit der Spritzen und auch bei den eventuell auftretenden Nebenwirkungen. Hierzu kann Sie Ihr Neurologe sicher ausführlich informieren. Im Prinzip kommt aber sicher auch eine Interferontherapie in Betracht.

Friedel: Guten Abend Herr Professor Henze, trotz Mitoxantron-Therapie und tägliche Einnahme von 4 x 10 mg Lioresal, 4 x 4 mg Sirdalud und 2 x 300 mg Gabapentin macht mir schmerzhafte Spastik in den Armen zu schaffen. Ich las, dass Timonil (Tegretal) die Beweglichkeit eventuell verbessern kann. Haben Sie Erfahrungen mit diesem Medikament bei Spastik und was raten Sie mir?

Prof. Thomas Henze: Timonil oder Tegretal sind - soweit mir bekannt - bei Spastik nicht gut wirksam, wenn überhaupt. Auch können sie die Schmerzen der Spastik wohl nicht nehmen. Das beste Medikament ist in Ihrer Situation wahrscheinlich das Gabapentin, das Sie allerdings auch in einer außerordentlich kleinen Dosis einnehmen. Ich würde Ihnen hier raten, zusammen mit Ihrem Neurologen die Dosis langsam zu steigern (offizielle Obergrenze ist z.Zt. 3600 mg pro Tag). Vielleicht kann das Lioresal dann sogar reduziert werden.

Sarah: Guten Abend. Ich habe eine Frage zu Blasenproblemen. Ich bin NICHT inkontinent, habe aber immer das Bedürfnis zum Pieseln auf die Toilette zu müssen. Das Gefühl ist ähnlich, als wenn man sich verkühlt hat. Dann kommt nur bisschen und nach 15-30 Minuten könnte ich wieder gehen. Ich kann zur Not auch anhalten, möchte aber wissen, wie ich das verbessern kann. Gibt es eine Möglichkeit, die nicht medikamentös ist?

Prof. Thomas Henze: Zunächst sollten Sie vom Hausarzt klären lassen, ob eine Blasenentzündung vorliegt, die dann natürlich behandelt werden muß. Ist es keine Blasenentzündung, sollte ein Urologe weitere Untersuchungen bei Ihnen durchführen, um zu klären, um welche Art von Blasenstörung es sich bei Ihnen handelt. Leider ist das ohne Untersuchungen praktisch nie genau zu klären. Erst dann kann er Ihnen eine Therapieempfehlung geben.

Sarah: Eine Blasenentzündung wurde Anfang Oktober ausgeschlossen. Ich habe 3 Tage Cortison wegen Nystagmus bekommen. Der ist weg. Aber die Blasenprobleme habe ich noch. In einigen Foren liest man, dass Kürbiskerne den Drang normalisieren soll. Was halten Sie davon? Gibt es noch andere Möglichkeiten?

Prof. Thomas Henze: Ich halte wirklich die vorherige Untersuchung für wichtig. Es ist nämlich von außen zumeist nicht zu entscheiden, ob Sie auf Toilette müssen bei kleiner Blase mit einem zu aktiven Austreibemuskel oder ob es eine sogenannte Überlaufblase ist (mit einem zu aktiven Schließmuskel), bei der die Blasenmuskulatur erheblich überdehnt wird. Auch ein fehlerhaftes Zusammenspiel dieser beiden Muskeln ist möglich. Für jede dieser Möglichkeiten ist aber eine unterschiedliche Therapie erforderlich. Ich würde daher wirklich erst zum Besuch bei einem Urologen raten (der Ihnen dann evtl. sogar Kürbiskerne als Therapie verschreibt).

Sandra: Da ich im Moment 24 Jahre bin, stellt sich für mich auch irgendwann die Frage bzgl. eines Kinderwunsches. Ist dies trotz einer Copaxone-Therapie möglich? Bzw. soll Copaxone erst nach 6 Monaten helfen, können hier dann verstärkt Schübe auftreten, bzw. was passiert bei einer ungewollten Schwangerschaft?

Prof. Thomas Henze: Während einer Behandlung mit Copaxone, aber auch mit einem Interferon, sollten Sie unbedingt eine Empfängnisverhütung betreiben. Auf jeden Fall sollten Sie während einer solchen Therapie nicht schwanger werden. Wenn jetzt eine aktive MS vorliegt, wäre es vielleicht möglich, dass Sie erst einige Jahre eine Copaxone- oder Interferon-Therapie machen, um weiteren Schüben vorzubeugen. Wenn sich die MS bei Ihnen dann "beruhigt" hat, könnte das Medikament abgesetzt werden und auch eine Schwangerschaft eintreten. In der Schwangerschaft ist das Risiko für einen neuen Schub nicht erhöht, im letzten Drittel sogar deutlich niedriger. Das Risiko steigt jedoch direkt nach der Entbindung sehr, wobei dann eine (auch vorbeugende) Behandlung mit Immunglobulinen durchgeführt werden könnte. Um eine insgesamt gute Entscheidung zu treffen, ist sicher aber ein viel ausführlicheres Gespräch erforderlich.

Sandra: Kann ich trotz einer Copaxone-Therapie Genussmittel wie z.B. Alkohol genießen?

Prof. Thomas Henze: Ja, das ist sicher möglich, wobei ich natürlich immer dazu rate, es nur in kleinen Mengen zu tun.

Sandra: Kann ich trotz Copaxone eine Alternative Therapie wie z.B. Homöopathie bzw. Nahrungsergänzung wählen und wie sinnvoll ist das?

Prof. Thomas Henze: Generell ist es sicher möglich, neben Copaxone auch Alternative Therapien anzuwenden. Es gibt allerdings keine Untersuchungen dazu, ob sie die Wirksamkeit des Copaxone beeinflussen. Zur Homöopathie kann ich Ihnen nichts weiteres sagen. Bezüglich der Nahrungsergänzung dürfte es sicher keine Probleme geben. Ich persönlich stehe dieser Methode aber etwas skeptisch gegenüber, da man mit einer ausgewogenen Ernährung (z.B. entsprechend den Empfehlungen der DMSG) eine sehr abgerundete Nahrung zu sich nimmt (ebenfalls mit ausreichend Selen, Zink, Coenzym, Vitamin E ...) und die oft teueren Ergänzungsmittel eigentlich nicht benötigt.

Friedel: Gibt es eine Therapie bei beginnenden Sprech- und Schluckproblemen bei sekundär chronisch progredientem Verlauf?

Prof. Thomas Henze: Auch hier ist zunächst eine genauere Untersuchung erforderlich. Bei Sprechstörungen macht das der Sprachtherapeut bzw. Logopäde, bei Schluckproblemen ebenfalls. Hier könnte evtl. aber auch eine Untersuchung des Schluckens mittels Endoskopie sinnvoll sein. Die Sprechtherapie wird praktisch ausschließlich durch den Logopäden durchgeführt, Medikamente helfen hier fast nie. Bei Schluckstörungen gilt eigentlich das Gleiche. Man kann aber zusätzlich dann, wenn zuviel Speichel im Mund ist, die Speichelproduktion verringern oder den Speichel auch flüssiger machen, damit er leichter abgeschluckt werden kann. Hierzu gibt es Medikamente. Auf jeden Fall ist es sinnvoll, frühzeitig Kontakt mit einem erfahrenen Logopäden aufzunehmen.

Sandra: Von Copaxone hört man immer viele Nebenwirkungen meine konkrete Frage jedoch dazu: Unterdrückt Copaxone das Immunsystem bzw. ist es Zell- bzw. Erbgutschädigend?

Prof. Thomas Henze: Über eine Zell- oder Erbgutschädigung ist meines Wissens nichts bekannt. Copaxone unterdrückt das Immunsystem auch nicht, sondern verlagert seine Aktivität weg von schädigenden Vorgängen zu Zellen, die eher eine anti-entzündliche Funktion haben. Eine erhöhte Gefahr von Infekten ist also damit auch nicht verbunden.

Sandra: Noch eine letzte Frage, im Falle einer Copaxone-Therapie spricht man von einer Langzeittherapie, kann diese Therapie jemals wieder aufgehört werden oder muss ich diese mein Leben lang machen? Vielen Dank für Ihre Beantwortungen!

Prof. Thomas Henze: Die Behandlung mit Copaxone sollte ebenso wie diejenige mit einem Interferon möglichst lange durchgeführt werden. Nach gegenwärtigen Erkenntnissen beginnt sie ja auch erst nach 6-9 Monaten zu wirken. Dazu, wie lange die Behandlung dann durchgeführt werden sollte, gibt es bis jetzt leider keine klaren Erkenntnisse. Sie sollten die Therapie - in Absprache mit Ihrem Neurologen - nur beenden, wenn wirklich Nebenwirkungen auftreten (die ja bei Copaxone eher selten sind) oder wenn trotz Copaxone die Zahl der Schübe nicht weniger wird bzw. sich im Kernspintomogramm die Zahl entzündlicher Herde trotzdem weiter erhöht. Dann müsste man wahrscheinlich eine andere Therapie beginnen.

Friedel: Kann Spastik im Tagesablauf täglich zu einem bestimmten Zeitpunkt (bei mir 16:00 bis 19:00 h) gesteigert auftreten?

Prof. Thomas Henze: Das ist durchaus möglich. Spastik ist ja bei vielen Betroffenen kein gleichmäßiges Symptom, sondern wechselt in ihrer Stärke und Ausprägung oft sehr. Vielleicht wäre es nützlich, wenn Sie die Einnahmezeitpunkte entsprechend verändern, also z.B. eine Dosis nachmittags um 15.00 nehmen. Es ist auch durchaus möglich, mehr als 3 Dosierungen pro Tag einzunehmen bzw. die Medikamente besser auf den ganzen Tag zu verteilen. Machen Sie sich doch über einige Tage Notizen darüber, wie stark die Spastik jeweils beim Aufstehen, vormittags, mittags, usw. ist. Daraus können Sie dann zusammen mit Ihrem Neurologen wahrscheinlich die für Sie beste Verteilung der Medikamente ermitteln.

kathrin: Guten Abend, Herr Prof. Henze, raten Sie bei einem "leichten" Verlauf der MS eher zu Copaxone oder zu Interferon? Eine klinisch sichere MS wurde bei mir erst vor ca. 3 Monaten festgestellt. Verdacht auf MS war Ende 2000.

Prof. Thomas Henze: Das ist nicht ganz leicht zu sagen. Es hängt sicher von der Zahl der bisherigen Schübe und der im Kernspintomogramm nachweisbaren Herde ab, aber natürlich auch davon, wie oft Sie bereit sind, sich selbst zu spritzen und natürlich auch davon, ob und welche Nebenwirkungen auftreten. Die Entscheidung ist damit immer sehr individuell. Vor Beginn einer Therapie (egal of Copaxone oder Interferon) sollten jedoch die entsprechenden Kriterien der DMSG (bzw. des ärztlichen Beirates) erfüllt sein. Das sind neben der gesicherten MS auch mindestens 1 gesicherter Schub und eine Mindestzahl von entzündlichen Herden im Kernspintomogramm.

kathrin: Die Kriterien der DMSG sind nach Aussage meines Neurologen gegeben. Stimmt es, dass ein Therapiebeginn so früh wie möglich sein sollte und auch das Alter (29 J) eine wichtige Rolle spielt ?

Prof. Thomas Henze: Die Behandlung sollte dann tatsächlich so früh wie möglich beginnen, da es mittlerweile bekannt ist, dass dann der Zeitraum bis zum Auftreten weiterer Schübe oft deutlich hinausgeschoben werden kann. Wir wissen ja mittlerweile auch, dass bei der MS neben den Schüben auch schon sehr früh im Krankheitsverlauf ein Abbau von Nervenzellen und -fasern (sogenannte axonale Degeneration) beginnt, die evtl. ebenfalls durch Copaxone oder Interferon verlangsamt werden kann. Ihr Alter ist dabei eher nicht so wichtig, da die gleichen Überlegungen auch für eine 20-jährige oder eine 60-jährige Betroffene mit beginnender MS gelten werden.

Friedel: Vielen Dank, Herr Professor Henze, für die Beantwortung meiner Fragen und noch einen schönen Abend!

Prof. Thomas Henze: Den wünsche ich Ihnen auch. Auf Wiedersehen.

Moderator Patricia Fleischmann: Auch im Namen der AMSEL ganz herzlichen Dank, Herr Professor Henze, für Ihre kompetenten Antworten. Ein Dankeschön ebenfalls an die Chatter daheim an den Rechnern für Ihre Beiträge! Nächstes Mal, am 2. November, antwortet Klaus Gusowski auf all Ihre Fragen zum Thema "MS und Sport". Bis dahin allen eine schöne Zeit!

Redaktion: AMSEL e.V., 19.10.2004