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Pflegebedürftig, was nun?

Pflegende Angehörige haben Anspruch auf "Verhinderungspflege", auch vier Jahre rückwirkend, erklärt Rentenberaterin Anja Besssel im AMSEL-Expertenchat.

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, herzlich willkommen hier im AMSEL-Expertenchat. Heute antwortet Anja Bessel auf Ihre Fragen zum Thema "Pflege". - Schießen Sie los!

Anja Besssel: Ich wünsche Ihnen einen guten Abend und freue mich auf Ihre Fragen! Anja Bessel

Anja Besssel

gerichtlich zugelassene Rentenberaterin im Teilgebiet Pflegeversicherung

  • 2004 Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten erfolgreich abgeschlossen
  • Parallel zur Tätigkeit bei einer großen Krankenversicherung berufsbegleitende Weiterbildung zur Vorbereitung der Sachkundeprüfung für Rentenberater vor dem Landessozialgericht. Im Frühjahr 2007 erfolgreich abgeschlossen und Zulassung zur Rentenberaterin im Teilgebiet Pflegeversicherung
  • Mitte 2007 vom Landessozialgericht die Zulassung zum mündlichen Verhandeln vor den Gerichten erteilt
  • Mehrere Praktika in sämtlichen Pflegebereichen während der Weiterbildung
  • Tätigkeit als gerichtlich zugelassene Rentenberaterin im Teilgebiet Pflegeversicherung seit dem 01.04.2007 gemeinsam mit Karin Svete im Rentenberatungsbüro Sans Souci

Neike: Was ist eigentlich Verhinderungspflege und wer hat darauf Anspruch?

Anja Besssel: Anspruch auf Verhinderungspflege gem. § 39 SGB XI besteht für Versicherte die bereits seit 6 Monaten in eine Pflegestufe eingestuft sind. Ist eine Pflegeperson wegen Erholungsurlaub, Krankheit oder sonstigen Gründen an der Pflege gehindert übernimmt die Pflegekassen die Kosten von einer Ersatzpflege für längstens 4 Wochen bis zu einem Höchstbetrag von 1510,- Euro jährlich. Die Verhinderungspflege kann auch stundenweise in Anspruch genommen werden. Ein Pflegedienst kann direkt mit der Pflegekasse abrechnen. Bei Ersatzpflege durch Bekannte/Verwandte die nicht mit dem Pflegebedürftigen bis zum 2. Grad verwandt/verschwägert sind, können die Aufwendungen auf Erstattungsantrag des Pflegebedürftigen von der Pflegekasse erstattet werden. Ein kleines Beispiel: Der Ehemann pflegt seine Ehefrau und ist wegen Arztterminen oder Hobbies an der Pflege stundenweise gehindert, es spingt die Nachbarin oder Freundin ein und erhält dafür eine Entschädigung. Diese Aufwandsentschädigung kann der Versicherte dann bis zum Höchstanspruch von 1510 Euro bei der Pflegekasse geltend machen. Die Verjährungsfrist für diese Leistung beträgt bei gesetzlich Versicherten 4 Jahre.

danni: hallo, bei meinem vater steht die beantragung der nächsten pflegestufe an, 1 auf 2. was muss ich beachten?

Anja Besssel: Eine Beantragung der Höherstufung ist dann zu raten, wenn sich der Hilfebedarf in der Grundpflege stark erhöht hat. Der durchscnittlicher tägliche Hilfebedarf in der Grundpflege beträgt bei PS I 45 Min. tägl., PS II 120 Min. tägl., PS III 240 Min. tägl. plus ein nächtlicher Hilfebedarf. Wichtig ist, dass Sie die weitere Verschlechterung des Krankheitsbildes deutlich machen. Sollten Sie einen Hilfebedarfsermittlungsbogen zugeschickt bekommen, sollten Sie genau hinsehen. Mitunter fehlen auf diesen Bögen einzelne Verrichtungen die es zu ergänzen gilt. Steht eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen an, informieren Sie den Gutachter ausführlich über den durchschnittlichen täglichen Hilfebedarf Ihres Vaters. Jede einzelne Verrichtung in den Bereichen der Körperpflege, Ernährung und Mobilität sollte mitgeteilt werden. Eine Begutachtungssituation ist immer unschön für den Betroffenen, aber nur wenn alle Einschränkungen besprochen werden, kann der Gutachter eine genaue Einschätzung abgeben.

Sonfi: Hallo Frau Bessel! Welche Voraussetzungen müssen beiMS vorliegen, um Pflegestufe 1 zu bekommen?

Anja Besssel: Bei MS sind die meisten Betroffenen motorisch (körperlich) eingeschränkt und dadurch ist der Hilfebedarf in der Grundpflege durch die motorischen Einschränkungen zu begründung. Eine krankheitsspezifische Voraussetzung für eine Pflegestufe gibt es nicht. Es zählt immer der notwendige Hilfebedarf in der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung und Mobilität). Also z. B. beim Waschen, Haare kämmen, Zähne putzen, Intimpflege nach Wasserlassen/Stuhlgang, das Richten der Bekleidung, Wechseln von Inkontinenzmaterialien, dem Kleinschneiden von Nahrung, Nahrungsaufnahme, dem Gehen und dem An- und Auskleiden. Der durchschnittliche tägliche Hilfebedarf in der Grundpflege beträgt bei PS I 45 Min. tägl., PS II 120 Min. tägl., PS III 240 Min. tägl. plus ein nächtlicher Hilfebedarf.

Holger: Wg. Fatigue und Uhthoff-Phänomän ist die tagesform bei meiner Frau sehr unterschiedlich. von selbständig bis pflegebedürftig. Das ändert sich ohne Ansage und wir schaffen es in der Familie nicht immer, flexibel zu reagieren. Kann man Pflegestufe 2 beantragen, auch wenn an manchen tagen gar keine Pflegestufe gebraucht wird?

Anja Besssel: hallo, auch bei der fatigue und dem uhthoff-phänomen kommt es auf den durchschnittlichen täglichen Hilfebedarf in der Grundpflege an. Es ist immer ein Durchschnittswert zu ermitteln (auch vom MDK Gutachter) und der kann durchaus ergeben, dass bei Ihrer Ehefrau die Pflegestufe II vorliegt. Ohne Ihre Ehefrau kennengelernt zu haben, kann ich dazu jedoch keine genaue Aussage treffen. Gerne können Sie mich auch telefonisch kontaktieren und mit mir einen unverbindlichen Gesprächstermin vereinbaren.

Helga: Welche Vor- und Nachteile hat das "persönliche Budget"?

Anja Besssel: Hallo, dies sind Leistungen nach dem SGB XII welche beim Sozialamt zu beantragen sind. Liegen bei Ihnen die Voraussetzungen für diese Leistungen vor, haben Sie eigentlich nur Vorteile, da Sie ja noch zusätzliche Leistungen erhalten. An der Pflegestufe und der Leistung durch die Pflegeversicherung ändert sich jedoch nichts.

danni: was ist mit zeiten für bürokratisches wie kontopflege, formulare ausfüllen, amstgängen? kann man das auch geltend machen oder wer ist dafür dann zuständig?

Anja Besssel: Dies sind Tätigkeiten die nicht Bestandteil der Grundpflege sind. Die Pflegeversicherung leistet Hilfe in Form von Geld- und Sachleistungen für die grundpflegerische und hauswirtschaftliche Versorgung der Pflegebedürftigen. Ist ein Pflegebedürftiger nicht mehr dazu in der Lage Dinge, wie Bankgeschäfte, Formulare ausfüllen und Amtgänge zu erledigen, werden diese in der Regel vom Generalbevollmächtigten (falls vorhanden) oder ggf. von einem Betreuer, der dann vom Amtsgericht bestellt werden muss, erledigt.

Helga: Aha, danke. Und wer hat Anspruch auf ein pers. Budget? Sorry, wenn das nicht ganz das Thema trifft, habe erst kürzlich davon erfahren.

Anja Besssel: Das Thema SGB XII ist sehr umfangreich und es spielen sehr viele Faktoren für die Gewährung der Leistungen mit ein. Da ich auf dem Gebiet der Pflegeversicherung zugelassen bin, bitte ich Sie, an die kompetenten Berater des Sozialamtes zu wenden. Diese können Ihnen ausführliche Informationen geben. In Sachen Pflegeversicherung können Sie sich immer gerne an mich wenden.

danni: und was ist mit begleitung zum arzt und ähnlichen zeitaufwendigen dingen. da sitzt man stundenlang teilweise. schon die organisation ist zeitraubend.

Anja Besssel: Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung zählt auch in die Grundpflege. Diese Arztbesuche müssen jedoch mindestens regelmäßig 1 x wöchentlich stattfinden (häufig bei Quicktest), damit sie in der Grundpflege berücksichtigt werden können. Es gibt sehr viele unterschiedliche Gerichtsurteile, welche Arztbesuche und ob auch Krankengymnastik oder ähnliche Therapien berücksichtigt werden. Generell sind auch nur die Wege zum Arzt zu berücksichtigen. Das Verlassen- und Wiederaufsuchen der Wohnung wirkt sich in der Regel nicht pflegestufenrelevant aus und wird von mir auch nur berücksichtigt, wenn diese tatsächlich ärztlich angeordnet sind und mind. 1 x wöchentlich stattfinden.

Karle: Unser Pflegedienst berechnet immer volle Stunden, ist aber oft kürzer da als auf den Abrechnungen steht. Kann man den einfach wechseln? Wie schnell geht das? Wohnen auf dem Land.

Anja Besssel: Sie kaufen sich die Pflegesachleistungen bei dem ambulanten Pflegedienst ein und Sie entscheiden welcher Pflegedienst zu Ihnen kommt. Kündigen können Sie den Pflegedienst in der Regel sofort. Schauen Sie nochmals im Pflegevertrag nach. Eine Möglichkeit wäre auch, den Pflegedienst direkt darauf anzusprechen. Sie können ja keine Leistungen bezahlen, die sie nicht erhalten. Sie können auch darauf bestehen, dass auf dem Durchführungsnachweis korrekte Zeiten angegeben werden und den Durchführungsnachweis (der zur monatlichen Abrechnung Grundlage ist) nicht unterzeichnen, da die Leistung ja nicht erbracht wurde. Generell gilt, diesen Nachweis vor Unterzeichnung immer zu prüfen um solche Falschabrechnungen zu vermeiden. Sollten Sie den Pflegedienst kündigen, sollten Sie vorher nach einem anderen "ausschau" halten, der dann künftig kommt oder die Pflege privat sicherstellen.

Tina: Ich bin - hoffentlich! - noch weit von einer pflege entfernt. Aber ich mach mir so meine Gedanken, wi das mal ist, vor allem, wenn man von heute auf morgen schlimme symptome hat und sich nicht mehr rühren kann. Hatte das schon mal bei einem Schub. Was kann ich vorsorglich machen, bestimmen, in die Wege leiten, damit das nacher auch alles funktioniert? Was ist mit der finanziellen Seite, eigene Wohnung etc.?

Anja Besssel: Die Pflegestufe können Sie beantragen, wenn bei Ihnen der Hilfebedarf in der Grundpflege gegeben ist. In Sachen Pflegeversicherung können Sie da wenig vorbereiten. In Sachen Vorsorge für wenn Sie ggf. irgendwann nicht mehr unterschreiben oider selbst entscheiden können und jemanden bestimmen möchten, der wichtige Entscheidungen für Sie treffen soll und auch gegenüber Behörden für Sie auftreten soll besteht die Möglichkeit dieser Person bzw. diesen Personen eine General- und Vorsorgevollmacht zu erteilen. Am besten bei einem Notar, dann hat alles Hand und Fuß.

Herbert: Was ist, wenn der pfelegende Angehörige selbst nicht mehr so schnell ist und die häusliche Pflege kostet ihn mehr Zeit und Kraft als der MDK vorsieht?

Anja Besssel: Die Zeitwerte die in den Richtlinien für die einzelnen Verrichtungen bestimmt sind, sind vollkommen ausreichend, wenn Sie dem MDK Gutachter ALLE einzelnen Verrichtungen die Sie erledigen mitteilen. Ein kleines Beispiel: Toilettengang. Die Pflegebedürftige muss beim Gehen begleitet werden, es muss die Hose herunter gezogen werden, es wird die Intimpflege erledigt, eine Vorlage wird gewechselt, die Hose muss wieder hochgezogen werden, die Pflegebedürftige muss zurück begleitet werden.

Herbert: Das heißt, die ganzen Arzt und Therapeutengänge werden nicht gezählt. mal ist das mehrmals in der Woche mal liegen aber drei Wochen zwischen 2 Terminen, je nach Bedarf meiner Frau. Das scheint mir nicht gerecht zu sein, dass dieser Aufwand nicht entlohnt wird. Außerdem kann ich sie nicht allein im Wartezimmer lassen, muss sie zur Toilette oder ähnlichem ja begleiten, ihr zu trinken geben und so fort.

Anja Besssel: Dieser Punkt ist sehr zeitaufwendig, kann dann aber leider nicht berücksichtigt werden. Für die Einstufung in eine Pflegestufe ist, wie gesagt, diese einzelne Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung nicht zwingend pflegestufenrelevant.

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, die anderthalb Stunden sind schon wieder um. herzlichen Dank, dass Sie hier waren. Ganz großer Dank geht auch an Anja Bessel vom Rentenberatungsteam Sans Souci! Am 15.11. gehts weiter, dann zum Thema "Spastik & andere Symptome der Multiplen Sklerose" mit Dr. Dieter Pöhlau. ich wünsche allen noch einen schönen Abend!

Redaktion: AMSEL e.V., 18.10.2011