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Von wirksam bis bedenklich: Alternative und komplementäre Therapien der MS

Zusätzlich zu den durch die Leitlinien beschriebenen Standard-Therapieformen der MS gibt es eine Fülle weiterer Therapien, die sich hinsichtlich Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit stark unterscheiden. Fundierte Informationen sowie Abstimmung mit den behandelnden Ärzten helfen MS-Erkrankten bei der Wahl der für sie ggf. geeigneten Ergänzungen und Alternativen. Im Folgenden stellt Prof. Dr. Roman Huber verschiedene Möglichkeiten vor.

Über die Schulmedizin hinaus

Multiple Sklerose (MS) ist nach wie vor nicht heilbar, aber behandelbar geworden. Die klassische Basistherapie (akute Schubtherapie und verlaufsmodifizierende Therapie), ergänzt durch die symptomatische Therapie mit zugelassenen Wirkstoffen und Methoden, hilft Erkrankten, ihr Leben mit MS zu meistern. Trotzdem fragen sich viele, ob sie noch mehr tun können, um den Fortschritt der Krankheit zu verlangsamen oder Symptomen entgegenzuwirken.

Von Akupunktur bis Yoga reicht die Palette an komplementären (die Schulmedizin ergänzenden) oder alternativen (anstelle der schulmedizinischen Behandlung) Therapien und Produkten. Grob gliedern kann man sie in die Bereiche „Sport und Bewegung“, „Physikalische Therapien“ (zum Beispiel Massagen, Elektrotherapie oder Kältetherapie), „Entspannungstechniken“, „Ernährung“, „traditionelle Heilverfahren“ (unter anderem Akupunktur und Pflanzenheilkunde), sowie weitere Verfahren (zum Beispiel Amalgamentfernung, Homöopathie, Musik- und Kunsttherapie, Osteopathie, tiergestützte Therapien etc.).

Die meisten MS-Erkrankten nutzen Komplementärmedizin

Eine Studie der Deutschen Medizinischen Wochenschrift zeigt, dass circa 70 Prozent aller MS-Erkrankten Naturheilkunde und Komplementärmedizin anwenden. An der Spitze des Spektrums mit 30 bis 35 Prozent stehen Entspannungsverfahren sowie Mineralien- und Spurenelemente, gefolgt von Diäten, Akupunktur und Homöopathie (20 Prozent). Meist werden diese als Ergänzung zu den Standard-Therapien genutzt. Einige Erkrankte probieren vor allem bei geringer Symptomatik zunächst diese Verfahren.

Pauschal lässt sich feststellen, dass sich jegliche Formen von Sport und Bewegung bei MS gut bewährt haben und dass sich physio- und ergotherapeutische Maßnahmen sowie Entspannungsverfahren positiv auf MS-Symptome auswirken können. Das Spektrum alternativer und komplementärer Ansätze, die MS zu behandeln, ist allerdings groß. Fortfolgend daher der Fokus auf Methoden, deren Wirksamkeit durch Studien belegt oder durch Patientenaussagen gestützt ist.

Stress als Risikofaktor bei MS

Verschiedene Studien zeigen, dass negativer Stress ein möglicher Faktor beim Auslösen von MS-Schüben ist und dass Stress die Symptome einer Multiplen Sklerose verschlechtern kann. So fand sich in kleineren Studien bei Negativstress ein verschlechterter Kernspin-Befund.

Therapien, die helfen können, Stress zu vermeiden, können daher für MS-Erkrankte wirkungsvoll sein. Besonders aufmerken lassen die Ergebnisse einer Studie, die 16 Wochen lang MS-Erkrankte mit begleitendem Entspannungstraining einer Gruppe ohne Zusatzbehandlung gegenüberstellte. Es verbesserten sich die Werte für Depressivität und Müdigkeit, aber vor allem waren nach 24 Wochen weniger neue Läsionen im MRT nachweisbar.

Gute Methoden der Stressreduktion sind unter anderem Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR), Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung sowie Bewegungstherapien mit Aufmerksamkeitskomponente (Yoga, Tai-Chi, Heileurythmie, Feldenkrais, Qigong).

Den Vitaminmangel ausgleichen

Es gibt leider wenige evidenzbasierte Aussagen zur Wirksamkeit von Vitaminen als Nahrungsergänzung bei MS. Viele Empfehlungen basieren deshalb auf Annahmen. Ein Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Spiegel und MS wird vermutet, denn MS-Erkrankte haben häufig einen zu niedrigen Vitamin-D-Spiegel. Die Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bei MS empfiehlt, einen solchen Mangel auszugleichen. B-Vitamine sind wichtig für das Nervensystem, ihr Nutzen bei MS ist jedoch, wie auch der Nutzen von Vitamin C, bis heute unklar. Wer sich vegan ernährt, sollte auf jeden Fall regelmäßig den Vitamin-B12-Wert überprüfen lassen.

Pflanzliche Präparate für mehr Lebensqualität Drei pflanzliche Wirkstoffe haben sich mit ermutigenden Studienergebnissen hervorgetan. Ginseng, über drei Monate verabreicht im Vergleich zu Placebo, zeigte bei den beteiligten MS-Erkrankten eine Besserung von Müdigkeit und allgemeiner Lebensqualität. Die in der Cannabis-Pflanze enthaltenen Wirkstoffe THC und CBD können MS-Symptome wie Spastik und Schmerzen lindern sowie das Gangbild verbessern. Allerdings wirkt Cannabis von Mensch zu Mensch unterschiedlich und kann Nebenwirkungen, wie Schwindel oder psychische Beeinträchtigungen, haben.

Mut macht auch eine frühe Phase-II-Studie aus Deutschland, die zeigt, dass Weihrauch die Entzündungsaktivität bei MS signifikant senken kann. Läsionszahl und -größe zeigten sich im MRT nach achtmonatiger Einnahme deutlich verringert. Auch bei Omega-Fettsäuren kann die entzündungshemmende Wirkung positive Effekte bei MS-Erkrankten haben, das gilt nachweisbar für die pflanzlich basierten Omega-6-Fettsäuren, die in Borretsch- oder Nachtkerzenöl vorkommen.

Baustein Ernährung und Diäten

Es gibt zwar keine spezielle Diät für MS-Erkrankte, aber es wird vermutet, dass die Ernährungsweise MS-Symptome beeinflussen kann. Eine gesunde, ausgewogene Ernährung ist deshalb besonders wichtig. Essen Sie abwechslungsreich mit viel Gemüse und Obst und nehmen Sie sich genügend Zeit für die Mahlzeiten. Sowohl die vegane (ausschließlich pflanzliche Kost) als auch die ketogene (viele tierische Fette und Eiweiße) Diät tauchen im Zusammenhang mit MS immer wieder auf.

Studien zeigen, dass vegane Ernährung Müdigkeitserscheinungen und seelisches Befinden verbessern kann. Ihr Gegenstück, die ketogene Ernährung, weist laut einer aktuellen Studie an der Berliner Charité allerdings ähnlich positive Effekte auf. Auch intermittierendes Fasten, entzündungshemmende Ernährung sowie die Paleo-Diät können für mehr psychisches und körperliches Wohlbefinden trotz MS sorgen.

Wichtig: Wer sich für eine besondere Ernährungsform entscheidet, sollte sich auskennen, da dies mit Mangelzuständen (z. B. Vitamin B12-Mangel bei veganer, Folsäuremangel bei ketogen er Ernährung) einhergehen kann. Untergewicht oder Übergewicht sollten vermieden werden.

Akupunktur als Booster für die Lebensqualität

Als Teil der Traditionellen chinesischen Medizin ist fachkundig ausgeführte Akupunktur eine Option bei der funktionellen und regulativen Therapie zur Symptomlinderung bei MS. Die Wirkungsmechanismen der Akupunktur sind wissenschaftlich umstritten. Allerdings wurden mehrfach positive Effekte in der Behandlung von MS-Erkrankten mit chronischen Schmerzen beobachtet. Auch positive Wirkungen auf Darmfunktion und Fatigue sind möglich und können insgesamt zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen.

Therapien, die Sie nicht anwenden sollten

Neben unwirksamen Therapien gibt es auch gefährliche Behandlungsmethoden, die zudem in der Regel nicht wissenschaftlich untersucht worden sind. Zu ihnen zählen die Verstärkung der Immunreaktion (sogenannte Immunaugmentation), die Frischzellentherapie, bei der Zellen von Kalbsföten oder jungen Kälbern gespritzt werden, die Behandlung mit Schlangen- oder Bienengift, die schwere Allergien nach sich ziehen kann sowie die intrathekale Stammzellentherapie, bei der dem Patienten eigene Stammzellen in den Rückenmarkskanal gespritzt werden und die tödlich verlaufen kann. Auf diese Behandlungen sollten MS-Erkrankte in jedem Fall verzichten. Auch die Amalgamsanierung kann nach heutigem Kenntnisstand nicht empfohlen werden.

Vorab-Information ist das A und O

Krankenkassen bezahlen in der Regel all jene Therapien, die verschreibungspflichtig sind. Je nachdem, bei welcher Kasse Sie versichert sind und – im Fall einer Privatversicherung – welchen Tarif Sie abgeschlossen haben, können mitunter auch komplementäre Verfahren wie Akupunktur oder Homöopathie übernommen werden. Am besten klären Sie mit Ihrer Krankenkasse vor Beginn einer Therapie, welche Kosten bezahlt werden, damit Sie keine bösen Überraschungen erleben. Generell gilt die Empfehlung, sich bei allen Therapieformen vorab umfassend zu informieren.

Die Forschung zu neuen Therapieformen und -ansätzen entwickelt sich stetig weiter – bleiben Sie dran am Thema, damit Sie selbstbestimmt und gemeinsam mit Ihren behandelnden Ärzten ein für sich passendes Konzept aus schulmedizinischer und ggf. ergänzender Therapie finden, das Ihren persönlichen Bedürfnissen entspricht.

Autor: Prof. Dr. Roman Huber, Leiter der Sektion für Naturheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg, Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie, mit Zusatzausbildung in Naturheilverfahren, Akupunktur, Ernährungsbeauftragter Arzt, Anthroposophische Medizin (GAÄD)

Quelle: together, 01.23

Redaktion: AMSEL e.V., 26.02.2024