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Stellungnahme zur Hypothese einer "venösen MS"

09.12.09 - Der Ärztliche Beirat des DMSG Bundesverbandes nimmt Stellung zur "Chronischen cerebrospinalen venösen Insuffizienz (CCSVI)" als Ursache von Multipler Sklerose.

Über die Hypothese einer "Chronischen cerebrospinalen venösen Insuffizienz (CCSVI)" als Ursache der Multiplen Sklerose wird aktuell vielerorts und auch in Internet-Foren diskutiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine venöse Abflussstörung zu einer venösen Stauung bzw. zu einer Erhöhung des venösen Druckes im Gehirn führt, welche dann ähnlich der chronisch venösen Insuffizienz der Beinvenen zu perivenösen Eisenablagerungen mit nachfolgender Entzündungsreaktion führen könnte (Zamboni 2006, Zamboni 2009).

Diese überwiegend sonographisch, also mittels Ultraschall erhobenen Befunde, ebenso wie der kürzlich beschriebene mögliche prognostische Zusammenhang von mittels transkraniellem Ultraschall nachgewiesenen Hyperechogenitäten im Gehirngewebe (Walter 2009), sind ein Indiz dafür, dass der Stellenwert der Neurosonologie (Ultraschalldiagnostik) bei der diagnostischen Statuserhebung von MS-Patienten noch weitgehend unbekannt ist.

In der Diskussion um die CCSVI oder "venöse MS" sollte dabei nicht übersehen werden, dass zerebrale venöse Insuffizienzen schon früher auch für andere neurologische Erkrankungen als ursächlich diskutiert wurden. Die dabei erhobenen Ultraschallbefunde sind zwar nicht mit den beschriebenen Befunden bei der "venösen MS" identisch, ergaben jedoch zunächst vergleichbare Hinweise für das Vorliegen einer Migräne und einer Erkrankung mit vorübergehendem Gedächtnisverlust (transiente globale Amnesie = TGA), (Sander 2000, Chung 2009).
Bei 86 Prozent der Patienten mit TGA wurde eine venöse Klappeninsuffizienz der Jugularisvenen beschrieben (Schreiber 2005). Eine venöse Insuffizienz der Vena jugularis kommt somit nicht ausschließlich oder typischerweise bei MS vor, ist also keinesfalls "pathognomonisch" - wie fälschlicher Weise oft behauptet wird. In der beschriebenen TGA-Studie konnte eine venöse Klappeninsuffizienz sogar bei 33 Prozent der Kontrollpersonen entdeckt werden (Schreiber 2005). Somit stellt sich die Frage, wie spezifisch diese Befunde für die Erkrankung sind. In eigenen bisher nur in Posterform vorgestellten Untersuchungen konnten wir das nicht nachweisen (Krogias 2003).

Diese Sachverhalte sollten in der Diskussion über eine mögliche venöse Genese der MS mit berücksichtig werden. Die sicherlich sehr interessanten Befunde von Zamboni und Mitarbeitern sollten in einer rationalen und seriösen wissenschaftlichen Arbeit weiter verfolgt, und zunächst auch von anderen Arbeitsgruppen bestätigt oder widerlegt werden. Zamboni bezeichnet seine Hypothese selbst als "the Big Idea" und lässt somit eine in diesem Prozess eher hinderliche Irrationalität erkennen (Zamboni 2006). Seine propagierte Implantation von venösen Stents zur Behandlung der MS bezeichnet er als "Liberation Treatment" und weckt somit bei MS-Patienten wahrscheinlich nicht zu erfüllende Erwartungen.

In einer aktuell im "Journal of Vascular Surgery" (Dezember 2009:50,6:1348-1358.e3) veröffentlichten Studie haben Zamboni und Mitarbeiter bei 35 RRMS, 20 SPMS und 10 PPMS-Patienten eine Behandlung mit Ballondilatation durchgeführt. Die Autoren behaupten, dass diese Prozedur bei den RRMS-Patienten zu einer Besserung des klinischen Verlaufes geführt habe. Eine Kontrollgruppe gibt es nicht. Ob die Patienten gleichzeitig Medikamente und wenn ja welche erhielten, geht aus der Arbeit nicht hervor.

Die beschriebene Verbesserung spiegelt zunächst den natürlichen Verlauf wieder, da Schübe sich bei RRMS regelmäßig zurückbilden. Bei SPMS und insbesondere PPMS ist dies nicht der Fall, somit hat das "Liberation treatment" keinen Einfluss gehabt.

Nach unserem wissenschaftlichen Urteil entbehren die von Zamboni et al. vorgestellten Studienergebnisse einer soliden wissenschaftlichen Methodik und sind damit wertlos und sogar ethisch bedenklich.

 
 

Für den Ärztlichen Beirat der DMSG, Bundesverband e.V.:

Prof. Dr. med. R. Gold (Vorstandsmitglied)
Direktor der Neurologischen Klinik am St. Josef-Hospital,
Klinikum der Ruhr-Universität Bochum
Gemeinsam federführend mit Dr. med. Christos Krogias
Neurologische Klinik am St. Josef-Hospital,
Klinikum der Ruhr-Universität Bochum

Prof. Dr. med. H.-P. Hartung (stellv. Vorsitzender),
Direktor der Neurologischen Klinik, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Prof. Dr. med. H. Wiendl (Vorstandsmitglied)
Leiter der Klinischen Forschungsgruppe für Multiple Sklerose und Neuroimmunologie, Neurologische Klinik, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Prof. Dr. med. K.V. Toyka (Vorsitzender)
Direktor der Neurologischen Klinik, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Prof. Dr. med. R. Hohlfeld (stellv. Vorsitzender),
Direktor des Institutes für Klinische Neuroimmunologie der Ludwig-Maximilians-Universität, München

Prof. Dr. med. Peter Rieckmann (Mitglied des AEB)
Chefarzt Neurologische Klinik Bamberg

Literatur:

Zamboni P, Galeotti R, Menegatti E et al.: Chronic cerebrospinal venous insufficiency in patients with multiple sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2009;80:392-399

Zamboni P: The big idea: iron-dependent inflammation in venous disease and proposed parallels in multiple sclerosis. J R Soc Med 2006;99:589-593

Zamboni P, Galeotti R, Menegatti E, Malagoni AM, Gianesini S, Bartolomei I, Mascoli F, Salvi F.: A prospective open-label study of endovascular treatment of chronic cerebrospinal venous insufficiency. J.Vasc.Surg. 2009; 50: 1348-1358.e3

Walter U, Wagner S, Horoski S, Benecke R, Zettl UK. Transcranial brain sonography findings predict disease progression in multiple sclerosis. Neurology 2009;73:1010-7

Sander D, Winbeck K, Etgen T, et al. Disturbance of venous flow patterns in patients with transient global amnesia. Lancet 2000; 356:1982–4.

Schreiber SJ, Doepp F, Klingebiel R, Valdueza JM. Internal jugular vein valve incompetence and intracranial venous anatomy in transient global amnesia. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2005; 76:509-513

Chung CP, Chao AC, Hsu HY, Lin SJ, Hu HH. Decreased Jugular Venous Distensibility in Migraine. Ultrasound Med Biol 2009 Nov 7 (Epub ahead of print).

Krogias C, Meves S, Peters S, Schöllhammer M, Postert T. Parameters of venous haemodynamics in healthy individuals and report of a patient with cerebral sinus thrombosis. J Neurol 2003;250(Suppl 2):II122

Quelle: Stellungnahme des Ärztlichen Beirates der DMSG e.V.

Redaktion: AMSEL e.V., 09.12.2009