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Selige Unwissenheit als Normalzustand ?

Prof. Nick Chaters Theorie erklärt, warum es völlig normal ist, wenn wir unsere Kontoauszüge nicht anschauen. Warum wir nicht zum Arzt gehen, obwohl uns ein Verdacht plagt etc. Das trifft Menschen mit Multipler Sklerose genauso wie Gesunde.

Die Antwort lautet: Unser kurzfristiges Selbst kämpft stetig mit dem langfristigen Selbst. Und es gewinnt diesen Kampf ziemlich oft. Verhaltensforscher nennen diese potenziell gefährliche Tendenz "Informationsvermeidungsstrategie". Landläufig nennt man es die Vogel-Strauß-Praxis: einfach den Kopf in den Sand stecken. Das Bild passt auch ganz gut zur BBC-Serie, in der Prof. Chater die "Blissful ignorance" erklärt: "The human zoo".

Aber warum tun wir das, wo uns doch Aufmerksamkeit und rechtzeitiges Handeln einiges ersparen könnten, gerade wenn es um unsere Gesundheit geht. Nun, das hat mit unserem Belohnungssystem zu tun, und das kurzfristige Selbst trägt hier gern den Sieg davon und sorgt dafür, dass potenziell unangenehme Informationen uns erst gar nicht erreichen oder eben immer wieder weggedrückt werden. Könnte die Antwort auf eine Frage negative Folgen haben, dann fragen wir erst gar nicht. Und: Es ist schlimmer, zu ahnen, dass etwas eine schlechte Nachricht sein könnte, als genau dies zu wissen - jedenfalls fühlt es sich so an.

Lieber das Kalorienetikett auf der Kekspackung ignorieren, als sich mit der unliebsamen Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass wir uns (womöglich generell) schlecht ernähren und es lieber lassen sollten - welch unangenehmer Gedanke ! Das mag unser kurzfristiges Selbst einfach nicht. Und bringt unser gesamtes Selbst dazu, Dinge zu ignorieren. Dabei hätte unser langfristiges Selbst viel von einer Ernährungsumstellung.

Klar, es gibt überlebenswichtige Informationen, zum Beispiel wenn man einen Knoten an sich ertastet. In vielen Fällen ist es wohl falscher Alarm und ein Weg zum Arzt bringt Erleichterung. In den selteneren Fällen, wo es sich etwa um eine bösartige Erkrankung handelt, wäre es aber mehr als vernünftig, möglichst schnell zum Arzt zu gehen, um beispielsweise rechtzeitig zu operieren und somit das eigene Leben zu retten. In jedem Fall ein Vorteil. Doch wirklich logisch ist der Kampf zwischen kurzfristigem und langfristigem Selbst nicht.

Übertragen auf die Multiple Sklerose kann man sich eine Menge Situationen vorstellen, in denen die selige Unwissenheit uns auf den ersten Blick mehr Vorteile verschafft. Warum eine Lumbalpunktion bei Verdachtsdiagnose Multiple Sklerose ? Das klingt unangenehm und außerdem gefällt einem die Theorie besser, dass man halt die letzte Zeit zu viel Stress hatte und darum neurologische Ausfälle. Die Information, welche aus dieser Punktion folgen könnte, wollen wir erst gar nicht haben, auch wenn erst sie uns befähigen würde zu handeln. Warum eine krankheitsmodulierende Therapie ? Schließlich war nach dem ersten Schub nichts mehr weiter. Die Information, dass die Immunmodulatoren gerade in der Frühphase wirken und darum eine Investition in die Zukunft darstellen ignorieren wir doch lieber. Zwei Mal die Woche Physiotherapie wäre ein großer Aufwand, den spart man sich manchmal lieber, auch wenn man langfristig sehr davon profitieren könnte, mobiler wäre, besser greifen könnte etc.

Wobei man bei Multipler Sklerose schwer in Schwarz-Weiß denken kann: Selbst wenn ein Patient gern eine sichere Diagnose möchte, kann es auch heute noch dauern, zum Beispiel bis zum nächsten Schub oder der nächsten Läsion im MRT, bis die Diagnose feststeht. Das erleichtert es, den Kopf in den Sand zu stecken wie der Vogel Strauß. Auch kann man Multiple Sklerose bis heute nicht heilen, was die Einsicht in eine Therapie ebenfalls erschwert.

Wie gesagt, dass wir das Leben in seliger Ungewissheit vorziehen, ist normal, sogar dann, wenn es um viel geht. 12-55% aller Getesteten, so ergaben Studien, erkundigen sich zum Beispiel gar nicht, ob sie HIV-infiziert sind. Ein hoher Prozentsatz an Patienten lehnt es ab, einen Gentest auf ein bestimmtes Krebsrisiko zu machen, auch wenn ihnen dies angeboten wird.

All diese Entscheidungen könnten potenziell langfristig unangenehme Gefühle hervorrufen. Und da entscheidet sich unser kurzfristig denkendes Selbst eben, unwissend zu bleiben. Lieber belohnt es sich jetzt mit ein bisschen seliger Unwissenheit als langfristig für größeres Glück zu sorgen. Es bevorzugt das Jetzt und ignoriert die Zukunft.

Quelle: BBCRadio4, The Human Zoo, Information, 27.01.2015

Redaktion: AMSEL e.V., 13.02.2015