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Nachgehakt: Kann Glutamat eine Multiple Sklerose auslösen?

04.08.06 - "Glutamat, ein Teufelszeug?" fragten wir vor einer Woche auf entsprechende Pressemeldungen hin. Professor Olaf Adam, hochkompetenter Spezialist auf dem Gebiet der Ernährung und mehrfacher AMSEL-Chatexperte, gibt Entwarnung.

In der Laienpresse wird behauptet, dass Geschmacksverstärker wie Glutamat Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Bluthochdruck, Migräne oder Multiple Sklerose auslösen. Glutamat ist ein bekannter Geschmacksverstärker, der sich in Sojasoßen, Worcestersoße und Maggi befindet. Glutamat ist ein Zusatzstoff in industriellen Nahrungsmitteln, wie Gewürzmischungen, Fertigsuppen und -soßen sowie in anderen Fertiggerichten. Auf der Verpackung muss Glutamat als eine natürlich vorkommende Verbindung nicht deklariert werden, sondern kann auch als "Würzsalz" oder "Geschmacksverstärker" angegeben sein. Die Kennzeichnung kann auch mit einer entsprechenden E-Nummer (E 620 - E 625) erfolgen.

"China-Restaurant-Syndrom"

Bekannt ist das "China-Restaurant-Syndrom". Binnen zwei Stunden nach dem Besuch eines Chinarestaurants oder nach dem Genuss von Speisen, die Monosodium-Glutamat (MSG) enthalten, kommt es bei disponierten Personen zu Kopfschmerzen, Hitzegefühl, Schwitzen, dem Gefühl von Kopfdruck, Taubheit oder Brennen um den Mund und Schmerzen im Brustbereich. Es können Rhythmusstörungen des Herzens und Herzklopfen auftreten. Ähnlich wie bei anderen allergischen Reaktionen kann es zu einem lebensbedrohlichen Glottisödem, Asthmasymptomen und Herzrhythmusstörungen kommen 1.

Wichtiger Neurotransmitter

Eingehende Studien konnten nicht sicher nachweisen, dass MSG für diese Erscheinungen verantwortlich ist. Es wird angenommen, dass einige Personen besonders empfindlich auf eine hohe Zufuhr von MSG reagieren, aus dem im Stoffwechsel der wichtige Neurotransmitter Glutamat entstehen kann. Im Nervensystem ist Glutamat der erregende Transmitter und wird von gamma-Aminobuttersäure (GABA), dem hemmenden Transmitter, antagonisiert (also „unwirksam, unschädlich gemacht“: Als chemischen Antagonismus bezeichnet man die Wirkungsweise von Substanzen, die einen eventuell schädlichen Stoff chemisch binden und so unwirksam machen; Anm. d. Red.). Die Konzentrationen von Glutamat und GABA im Gehirn liegen grob tausendfach höher als die von Noradrenalin und Dopamin, den Transmittern des sympathischen Nervensystems. Glutamat trägt zur Vermittlung von Sinneswahrnehmungen ebenso wie zur Motorik und zu höheren Gehirnfunktionen wie Lernen und Gedächtnis bei. Diese Funktionen werden besonders im Zentralhirn, dem Hippocampus, geregelt 3.

Stoffwechselwege genau reguliert

Glutamin, das aus Glutamat entstehen kann und zu Glutamat umgewandelt werden kann, ist nicht nur im Blut die mengenmäßig bedeutendste Aminosäure, sondern auch Hauptbaustein der Gehirnproteine. Im Stoffwechsel dient Glutaminsäure der Entfernung des äußerst giftigen Ammoniak (NH3). Im Gehirn ist seine Konzentration durch drei verschiedene Stoffwechselwege genau reguliert, so dass ein Gleichgewicht zwischen Glutaminsäure, Glutamin und Glutamat eingestellt werden kann. In die Zellen gelangt Glutamat über vier Rezeptoren, über die es den Stoffwechsel des Natrium, Kalium und Kalzium reguliert. Arzneimittel, die diese Kanäle verstopfen sind Narkosemittel (Ketamin), dessen Vorläufer Phencyclidin heute als Rauschmittel missbraucht wird 4. Weitere dieser Arzneimittel können die Beschwerden von Parkinsonkranken lindern (Amantadin und Memantin). Die letzteren haben eine zusätzliche Funktion: Sie verändern die Plastizität der Nervenzellen und können im positiven Fall das Lernen und das Langzeitgedächtnis bessern. Unter ungünstigen Bedingungen, wie bei Durchblutungsstörungen oder Unterzuckerung (Hypoglykämie) kann Glutamat über diese Rezeptoren neurotoxisch wirken. Dafür ist ein überschießender Einstrom von Kalzium durch den Rezeptor (NMDA-Rezeptor) mitverantwortlich 2 Im Experiment können hierdurch Nervenzellen zerstört werden 6

Neurotoxischer Effekt nicht durch Lebensmittel

Der letztere Effekt wurden in der Laienpresse herausgestellt, und soll für die oben genannten schädlichen und krankheitsfördernden oder –verstärkenden Wirkungen des Glutamat verantwortlich sein. Er wird aber nur lokal unter besonderen Bedingungen ausgelöst und hat nichts mit dem Glutamatgehalt der Kost zu tun 5

Früher: von der Nervennahrung zum Nervengift

Die Glutaminsäure hat seit den 40-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine wechselvolle Geschichte erlebt. Man vermutete zunächst, dass sie epileptische Anfälle verhüten und bei Schwachsinn helfen könne. Das führte zur Anwendung in der Neurologie und Psychiatrie, nicht zuletzt aber bei Kindern mit Schulschwierigkeiten. Seit 1954 erkannte man, dass Glutaminsäure auch Krämpfe auslösen und Nervenzellen zerstören kann. Diese Eigenschaft wurde vor allem dem Glutamat als „Geschmacksverstärker“ zugeschrieben. In diesem Zusammenhang wurden Höchstgrenzen festgelegt. Aus der Nervennahrung war ein Nervengift geworden.

Heute: weder Heilsbringer noch MS-Auslöser

Inzwischen wissen wir, dass Glutamat in der Kost weder den IQ erhöht noch eine der oben genannten Krankheiten auslösen kann. Gegen die Verwendung von Glutamat als Geschmacksverstärker besteht somit auch für Patienten mit Multipler Sklerose keine Einwände. Ausgenommen sind Personen, die mit einer allergischen oder pseudoallergischen Reaktion auf Glutamat reagieren und unter dem Chinese-Restaurant-Sydrome leiden.

 
Text: Prof. Dr. med. Dr. habil. Olaf Adam
 
(Arzt für Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Klinische Pharmakologie, Ernährungsbeauftragter Arzt, Klinikum Innenstadt der Ludwig-Maximilians-Universität, Walther-Straub-Institut für Pharmakologie und Toxikologie der LMU München)
 


 
Literatur
1 Geha RS, Beiser A, Ren C, Patterson R, Greenberger PA, Grammer LC, Ditto AM, Harris KE, Shaughnessy MA, Yarnold PR, Corren J, Saxon A: Review of alleged reaction to monosodium glutamate and outcome of a multicenter double-blind placebo-controlled study. J Nutr. 130 (4S Suppl):1058S-62S, 2000.
2 Lipton SA: NMDA receptors, glial cells, and clinical medicine. Neuron. 6;50(1):9-11, 2006.
3 Nestler EJ, Aghajanian GK: Molecular and cellular basis of addiction. Science, 1997, 278:58-63.
4 Rodriguez de Fonesca F et al.: Activation of corticotropin-releasing factor in the limbic system during cannabinoid withdrawal. Science, 1997, 276:2050-4.
5 Takeuchi H, Jin S, Wang J, Zhang G, Kawanokuchi J, Kuno R, Sonobe Y, Mizuno T, Suzumura A: Tumor Necrosis Factor-{alpha} Induces Neurotoxicity via Glutamate Release from Hemichannels of Activated Microglia in an Autocrine Manner. J Biol Chem. 281(30):21362-8, 2006.
6 Wong R: NMDA receptors expressed in oligodendrocytes. Bioessays. 28(5):460-4, 2006.
 

Redaktion: AMSEL e.V., 01.09.2006