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Multiple Sklerose und Schwangerschaft

23.05.05 - Drei wichtige Fragen für Eltern und solche, die es werden wollen.

Die Multiple Sklerose ist in Deutschland die häufigste chronisch neurologische Erkrankung junger Menschen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Deshalb spielen Fragen zu Familiengründung und Schwangerschaft eine wichtige Rolle in der Beratung der Patientinnen und Patienten. Im wesentlichen geht es um 3 Fragen:
1. Schadet die Multiple Sklerose der Eltern und die Behandlung der Erkrankung dem Kind?
2. Schadet die Schwangerschaft der erkrankten Mutter?
3. Kann man mit Multipler Sklerose Kinder aufziehen?
Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden. Die kontinuierliche Beratung und Begleitung von Patientinnen durch die Schwangerschaft durch einen in dieser Aufgabe erfahrenen Neurologen kann dieser Artikel natürlich nicht ersetzen.

1. Schadet die Multiple Sklerose der Eltern und die Behandlung der Erkrankung dem Kind?

Die Multiple Sklerose ist keine Erbkrankheit im engeren Sinne. Vererbt wird eine bestimmte Konstellation von Gewebemerkmalen, die Einfluß auf die Häufigkeit des Auftretens einer Multiplen Sklerose haben. Es gibt Gewebemerkmale, die das Auftreten einer Multiplen Sklerose begünstigen und solche, die es unwahrscheinlicher machen.

Das Risiko an einer Multiplen Sklerose zu erkranken, beträgt in der Normalbevölkerung etwa 0,1 %. Bei eineiigen Zwillingen, d.h. Zwillingen, die genau die gleichen Gene tragen, beträgt es bei Multipler Sklerose des einen Zwillings für den anderen Zwilling etwa 25 % (Willer et al., Proc Natl Acad Sci. 2003;100:12877-82). In Abhängigkeit von dem Verwandtschaftsgrad zu einer erkrankten Person läßt sich angeben, wie hoch das Risiko für eine bislang nicht betroffene Person ist. Je enger die verwandtschaftliche Beziehung ist, desto größer ist das Risiko. Hierzu gibt es verschiedene Untersuchungen. Die Tabelle 1 gibt die Prozentzahlen für die Erkrankungswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsgrad aus einer dieser Untersuchungen an.

Das Risiko für das ungeborene Kind an einer Multiplen Sklerose zu erkranken, läßt sich für den Einzelfall natürlich nicht angeben. Nach den Untersuchungen ist es jedoch so gering, daß es keine Empfehlung geben kann, keine Kinder zu bekommen. Es bleibt dies eine individuelle Entscheidung der potentiellen Eltern.

Alle wirksamen immunmodulatorischen Medikamente (Azathioprin, b-Interferone, Glatirameracetat, Mitoxantron u.a.) dürfen während einer Schwangerschaft nicht gegeben werden. Eine ungewollte Schwangerschaft während der Behandlung mit diesen Medikamenten ist deshalb unbedingt zu vermeiden. Solange die Behandlung durchgeführt wird, sollten geeignete und sichere empfängnisverhütende Maßnahmen ergriffen werden. Bei Kinderwunsch wird die immunmodulatorische Behandlung beendet, bevor die Schwangerschaft angestrebt wird. Eine Zeit von 3 – 6 Monaten zwischen Beendigung der immunmodulatorischen Therapie und dem Eintritt der Schwangerschaft wird empfohlen. Tritt eine Schwangerschaft ungewollt unter einer immunmodulatorischen Therapie ein, ist die Behandlung sofort abzusetzen. Eine Behandlung mit Mitoxantron kann die Fähigkeit einer Frau Kinder zu bekommen beeinträchtigen.

Im Falle eines Schubes während der Schwangerschaft ist prinzipiell eine hochdosierte, intravenöse Kortisontherapie ohne Schaden für das Kind möglich. Insbesondere in den ersten 3 Monaten der Schwangerschaft wird die Indikation dazu, wegen der sich in dieser Zeit bildenden Organe des ungeborenen Kindes, sehr zurückhaltend gestellt.

2. Schadet die Schwangerschaft der erkrankten Mutter?

Die Schwangerschaft ist ein immunologisch besonderer Zustand, denn das ungeborene, immunologisch fremde Kind muß vom Immunsystem der Mutter toleriert werden. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür, daß während der Schwangerschaft die Zahl der Schübe abnimmt. Nach der Geburt steigt sie an, um 1 Jahr danach wieder das Ausgangsniveau von vor der Schwangerschaft zu erreichen. Dies wurde in einer großen Studie von 269 Schwangerschaften bei 254 Frauen nachgewiesen (Confavreux et al. NEJM 1998; 339: 285-291)(Abbildung 1). Insgesamt ist damit die Wirkung der Schwangerschaft auf den Verlauf der Erkrankung neutral, d.h. es gibt weder einen günstigen noch einen ungünstigen Effekt.

Die Entscheidung über die Durchführung der Geburt (natürliche Geburt, Kaiserschnitt) richtet sich ausschließlich nach den geburtshilflichen Erfordernissen. Durch die Schmerzstillung während der Geburt wird die Erkrankung nicht negativ beeinflußt. Auch eine Periduralanästhesie (PDA) ist möglich.

Die immunmodulatorischen Medikamente und auch Kortison treten teilweise in die Muttermilch über und dürfen deshalb auch während der Stillzeit nicht gegeben werden. Tritt in der Stillzeit ein Schub auf muß abgestillt und eine hochdosierte, intravenöse Kortisontherapie gegeben werden. Danach sollte zeitnah die immunmodulatorische Therapie wiederaufgenommen werden.

Kann man mit Multipler Sklerose Kinder aufziehen?

Das Aufziehen von Kindern stellt für alle Eltern eine besondere Herausforderung dar. Während in den ersten Lebensmonaten noch vor allem die nächtlichen Aufgaben und das daraus resultierende Schlafdefizit an Körper und Nerven zehrt, sind es im weiteren Verlauf die häufig schwierige Organisation des Alltags. Während der Pubertät der Kinder ist die Auseinandersetzung mit den oft eigenwilligen Verhaltensweisen und Wünschen der Jugendlichen schwierig.

Viele Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose leiden unter einer chronischen Erschöpfung, die häufig bereits im normalen Alltagsleben Probleme bereitet. Bei der Kindererziehung kommen diese Patientinnen und Patienten häufig sehr schnell an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Treten Schübe auf, fällt der betroffene Elternteil oft kurzfristig für die Erledigung seiner Aufgaben aus.

Für die Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose ist die Aufgabe der Kindererziehung nur zu bewältigen, wenn sie in ein dichtes und funktionierendes Netz sozialer Kontakte eingebunden sind. Diese Kontakte sollten im Notfall kurzfristig und unkompliziert Hilfe bereitstellen können.

Schon vor der Schwangerschaft sollte daran gedacht werden dieses Netz aufzubauen.

All diese Schwierigkeiten sollten jedoch nicht das Glück schmälern, das mit dem Erleben aufwachsender Kinder verbunden ist. Mit der richtigen Vorbereitung haben schon viele Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose gesunde, zufriedene und glückliche Kinder aufgezogen.

Dr. med. Martin Rösener
Neurologische Praxis
Stuttgart

Redaktion: AMSEL e.V., 24.05.2005