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Multiple Sklerose: Neurologen raten von einer Aufdehnung der Halsvenen dringend ab

In einer weiteren Stellungnahme äußert sich die DGN negativ zur sogenannten CCSVI. Grundlage sind eine aktuelle kanadische Studie sowie eine Zusammenfassung mehrerer Studien durch deutsche Wissenschaftler.

Je größer der Leidensdruck kranker Menschen, desto höher ist ihre Bereitschaft, auch ungewöhnliche Therapiewege zu gehen, fernab des Anratens ihres Arztes. Gerne wird dann auch tief in die eigene Tasche gegriffen. Zumal wenn die Therapie mit einer glaubhaften Theorie verknüpft ist, wenn angeblich Zahlen vorliegen, die sie untermauern und - vor allem - wenn sonst keine Heilung in Sicht ist.

Genau dieser Fall trifft auf Multiple Sklerose zu. Sie ist nicht heilbar. Krankheitsmodulierende Therapien sind vielleicht umständlich, haben womöglich Nebenwirkungen. Vor allem aber bringen sie bei allem Aufwand erst keine Heilung. Nicht wenige Betroffene suchen nach Behandlungsmöglichkeiten außerhalb dessen, was Fachgesellschaften raten, sei dies nun eine "Stammzelltherapie" oder auch die Aufweitung der Halsvenen, wie sie ein italienischer Arzt verficht.

Blutabflussstörungen gleich häufig wie bei Gesunden

Tausende Multiple-Sklerose-Patienten setzten in den vergangenen Jahren ihre Hoffnung in eine Verbesserung des Blutflusses ihrer Halsvenen – offenbar ohne wissenschaftliche Grundlage, wie eine aktuelle Studie aus Kanada nahe legt. Die Ende des vorigen Jahrzehnts entstandene Theorie, Multiple Sklerose werde durch eine Verengung der blutableitenden Venen im Hals- und Brustbereich mitverursacht, ist schon seit einiger Zeit äußerst umstritten. Nun zeigt eine aktuelle Studie, dass diese relativ simple Erklärung der komplexen Multiplen Sklerose nicht zutreffen kann: Die Blutabfluss-Störungen kommen bei viel weniger MS-Patienten vor als bisher gedacht – und gleich häufig wie bei Gesunden. Somit kann die als CCSVI bezeichnete Stauung nicht die Ursache der Erkrankung sein.

Auch in Deutschland bewerben Ärzte die Erweiterung der Halsvenen als Therapie bei Multipler Sklerose (MS) und bieten diese als Selbstzahlerleistung an. "Ihr Leidensdruck hat viele MS-Patienten dazu veranlasst, sich die Halsvenen dehnen zu lassen, um eine echte oder vermeintliche Stauung aufzulösen. Auch wenn dies für versierte Ärzte eine Standardintervention ist – die Deutsche Gesellschaft für Neurologie muss deutlich davon abraten, da kein Effekt auf den Verlauf der MS-Erkrankungen zu erkennen ist", empfiehlt Professor Ralf Gold, Vorstandsmitglied des Neurologenverbandes und Mitautor eines ebenfalls aktuellen Literatur-Reviews, der zum gleichen Ergebnis kommt.

Venöser Blutstau deutlich seltener als behauptet

Die Studie aus Kanada, veröffentlicht in "The Lancet", untersuchte erstmals systematisch die inneren Jugularvenen und die Vena azygos von 79 MS-Betroffenen, 55 nicht erkrankten Geschwistern und 43 gesunden Probanden – und zwar nicht nur mittels Ultraschall, sondern auch mittels Katheter-Venographie, dem bildgebenden Gold-Standard für die Diagnose venöser Stenosen. Die nach standardisierten Test-Protokollen durchgeführte Studie unter der Leitung von Dr. Anthony Traboulsee von der University of British Columbia in Vancouver zeigt, dass eine "chronische zerebrospinale venöse Insuffizienz" (CCSVI), wie sie ursprünglich vom italienischen Gefäßchirurgen Paolo Zamboni definiert wurde, selten ist und nicht häufiger vorkommt als bei Personen ohne MS.

Der Theorie Zambonis zufolge führt eine chronische Blutabfluss-Störung in den inneren Jugularvenen oder in der Vena azygos zu einem erhöhten Druck im Gehirn mit nachfolgenden Entzündungsreaktionen (Zamboni 2006, Zamboni et al, 2009). Der von ihm empfohlenen Methode, MS mit einer Erweiterung dieser extrakranialen Venen positiv beeinflussen zu wollen, schürte verständlicherweise Hoffnung bei einer großen Anzahl von Patienten.

Ultraschall zu ungenau

Die Wissenschaftler fanden mit der Katheter-Venographie die von Zamboni statuierten Merkmale für eine MS-relevante venöse Stauung gleichermaßen bei 2 Prozent der MS-Betroffenen und ihren nicht erkrankten Geschwistern. 3 Prozent der Gesunden erfüllten die Kriterien ebenfalls. Eine CCSVI ist demnach bei nicht von MS betroffenen Personen genauso häufig wie bei MS-Patienten.

Die Studie konnte außerdem zeigen, dass der Ultraschall zur Feststellung der CCSVI-Kriterien – ursprünglich auch von Zamboni benutzt – weder sensitiv noch spezifisch genug ist: Die Ultraschall-Resultate (CCSVI-Kriterien erfüllt bei 44 Prozent der Teilnehmer mit MS, 31 Prozent der Geschwister und 45 Prozent der Gesunden) wichen deutlich von den Befunden aus der Katheter-Venographie ab.

Deutsches Team kommt ebenfalls zu negativem Ergebnis

Erst vor wenigen Wochen wurde auch das Ergebnis einer Zusammenschau der bisherigen Datenlage in der Zeitschrift "Aktuelle Neurologie" veröffentlicht. Das deutsche Autorenteam kommt darin zu dem Schluss, dass auch die in Deutschland durchgeführten Studien keine Hinweise auf eine "venöse Genese" der MS geben würden und die internationale Datenlage sehr uneinheitlich sei: "Die Ergebnisse unterstützen nachhaltig die Empfehlung, dass interventionelle Verfahren zur Erweiterung der venösen Halsgefäße nicht mehr außerhalb von klinischen Studien durchgeführt werden sollten", so die Wissenschaftler.

Quelle: Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), 18.11.2013

Weitere Quellen:

Anthony L Traboulsee, Katherine B Knox, Lindsay Machan, Yinshan Zhao, Irene Yee, Alexander Rauscher, Darren Klass, Peter Szkup, Robert Otani, David Kopriva, Shanti Lala, David K Li, Dessa Sadovnick. Prevalence of extracranial venous narrowing on catheter venography in people with multiple sclerosis, their siblings, and unrelated healthy controls: a blinded, case-control study. The Lancet, Early Online Publication, 9 October 2013, doi:10.1016/S0140-6736(13)61747-X
C. Krogias, G. Tsivgoulis, M. Grond, H. P. Hartung, B. Hemmer, W. Oertel, H. Wiendl, R. Gold. Übersicht und Analyse internationaler Fall-Kontroll-Studien zu "Chronischen zerebrospinalen venösen Insuffizienz" (CCSVI) und Multipler Sklerose. Akt Neurol 2013; 40: 445–451

Redaktion: AMSEL e.V., 19.11.2013