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Macht Multiple Sklerose härter im Urteilen ?

Laut einer internationalen Studie fallen moralische Urteile von MS-Betroffenen härter aus als die von Gesunden. Das Ergebnis ist jedoch mit Vorsicht zu genießen: aufgrund der kleinen Patientenzahl und weil andere Unterscheidungsfaktoren als die MS selbst nicht untersucht wurden.

Dass jemand, der schon mal fast erblindet war, der im Rollstuhl saß und weiß, dass das wiederkommen kann, der chronisch Multiple Sklerose hat und täglich mit neuen Einschränkungen rechnen muss, - dass so jemand unter diesen Umständen vielleicht auch härter im Nehmen wird, das überrascht wohl niemanden.

Härter im Nehmen

Dass jemand nach der Diagnose MS Kleinigkeiten am Leben schätzen lernt, die er vorher als selbstverständlich betrachtet hatte, und dass einer, der sein Leben lang Spritzenangst hatte, es nun als kleinstes Übel betrachtet, sich selbst eine Injektion zu setzen, das scheint natürlich. Man könnte sagen, wenngleich hierzu keine Studiendaten vorliegen: Die Erfahrung mit Multipler Sklerose macht viele Betroffene härter im Nehmen.

In der vorliegenden Studie geht es jedoch um etwas anderes: Das Credo lautet hier, Multiple Sklerose mache härter im Urteilen. Eine nicht ganz unverfängliche Behauptung, zumal sie auf den Daten von nur 38 MS-Patienten beruht. Außerdem wurden weitere Faktoren, die eventuell einen Einfluss auf die moralischen Urteile der MS-Gruppe, nicht jedoch der gesunden Kontrollgruppe gehabt haben könnten, nicht näher beleuchtet.

"Ticken" Multiple-Sklerose-Erkrankte anders in ihrem Urteilsvermögen ?

Nebenwirkungen von Medikamenten etwa (Depressionen können zum Beispiel die Wahrnehmung der Umwelt verändern). Und dann kognitive Einschränkungen: Die zu beurteilenden Situationen durften sich die Patienten zwar lange anschauen. Für eine Frage waren jedoch nur 30 Sekunden Zeit zu antworten. Da viele MS-Betroffene unter Fatigue leiden, Exekutivfunktionen, also das Entscheiden und Handeln, eingeschränkt sein können, könnte auch dieser Umstand einen Einfluss genommen haben. Es scheint jedenfalls gefährlich, aus dieser kleinen Gruppe an Betroffenen auf alle Menschen mit Multipler Sklerose schließen zu wollen.

In der Studie sollten die Probanden darüber entscheiden, wie in bestimmten Situationen das Verhalten von Menschen zu beurteilen ist (anhand ihrer Intention wie der Folge für andere) und wie viel Prozent der Bevölkerung sich wohl der Meinung der Testperson anschließen würden.

  • Fall 1 "neutrale Intention - neutrale Folge":
    A gibt B Erdnüsse zu essen, ohne zu wissen, dass B allergisch dagegen ist. B genießt seine Erdnüsse. Ihm passiert nichts.
  • Fall 2 "neutrale Intention - negative Folge":
    A gibt B Erdnüsse zu essen, ohne zu wissen, dass B allergisch dagegen ist. B erleidet einen anaphylaktischen Schock.
  • Fall 3 "negative Intention - neutrale Folge":
    A gibt B Erdnüsse zu essen, wohl wissend, dass B allergisch dagegen ist. B genießt seine Erdnüsse. Ihm passiert nichts.
  • Fall 4 "negative Intention - negative Folge":
    A gibt B Erdnüsse zu essen, wohl wissend, dass B allergisch dagegen ist. B erleidet einen anaphylaktischen Schock.

Insgesamt gab es 24 Beispiele, teils auch mit angenommenem tödlichen Ausgang für B. Ergebnis: Die Testpersonen mit MS entschieden - im Durchschnitt - in allen 4 Fällen (etwas) härter als Nicht-Betroffene.

Die Antworten der MS-Betroffenen entsprachen dabei den Tendenzen der nicht-erkrankten Gruppe (dass etwa ein "Unfall" ohne Absicht weit weniger hart beurteilt wurde als eine beabsichtigte Tat, egal ob diese zu Folgeschäden für Person B führte oder nicht, zum Beispiel wurde gruppenübergreifend "versuchter Mord" deutlich härter beurteilt als "Totschlag ohne Absicht"). Auf einer Skala von 0-7 Punkten je Fall entschied die Gruppe mit Multipler Sklerose um bis zu einem halben Punkt harscher als die gesunde Gruppe.

Keine weiteren Vorurteile gegen MS-Betroffene

Die Forscher finden die Ergebnisse überraschend, führen sie jedoch auf die Konditionierung durch die Erkrankung Multiple Sklerose zurück.

Statistisch gesehen ist der Unterschied signifikant. Angesichts der kleinen Menge an Testpersonen würde man sich hier jedoch größere Teilnehmerzahlen zur Befragung wünschen, bevor eine ganze Gruppe Erkrankter gewissermaßen vorverurteilt wird für ihre Beurteilungskraft.

Quelle: Social Neuroscience, 20.04.2016

Redaktion: AMSEL e.V., 04.05.2016