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Kinder trotz MS: Wie geht das?

Aktionstag für Junge MS-Kranke, 6. Juli 2002

- Themengruppe III -

1. Vererbung, Schwangerschaft, Geburt

2. Forschungsprojekt "Kinder in Familien mit chronisch kranken Elternteil am Beispiel der MS -

1. Vererbung, Schwangerschaft, Geburt

Die Multiple Sklerose ist die häufigste chronische neurologische Erkrankung junger Menschen in Deutschland. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die Themen Vererbung, Schwangerschaft und Geburt spielen deshalb eine besondere Rolle und sollen in diesem Vortrag ausführlich und verständlich dargelegt werden.

Die Multiple Sklerose ist keine Erbkrankheit im engeren Sinn, vererbt wird allenfalls eine bestimmte Konstellation von Gewebemerkmalen, welche die Entstehung der Erkrankung begünstigen oder unwahrscheinlich machen. Während das Risiko an einer Multiplen Sklerose zu erkranken in der Allgemeinbevölkerung etwa 0,05 bis 0,1% beträgt, steigt es im Falle eines erkrankten Elternteils auf etwa 2 bis 4% an, d.h. 96 bis 98% aller Kinder an Multipler Sklerose erkrankten Eltern bekommen diese Erkrankung nicht! Da auch Umweltfaktoren einen Einfluss auf die Entstehung der Erkrankung haben, kann das gering erhöhte Risiko nicht ausschließlich der Vererbung zugeschrieben werden.

Während der Schwangerschaft ist die Zahl der Erkrankungsschübe geringer, nach der Geburt steigt die Zahl der Schübe vorübergehend wieder an. Insgesamt ist der Einfluss der Schwangerschaft auf den Krankheitsverlauf neutral. Wegen bislang nicht geklärter schädigender Wirkungen auf die Schwangerschaft bzw. das ungeborene Kind sollten während der Schwangerschaft keine derzeit etablierten immunmodulatorischen Medikamente (b-Interferone, Glatirameracetat u.ä.) eingesetzt werden. Eine ungewollte Schwangerschaft während des Einsatzes dieser Medikamente ist zu vermeiden. Während der Schwangerschaft auftretende Schübe können, wie sonst auch, mit Cortisoninfusionen behandelt werden, in der Stillzeit muss für die Dauer der Cortisonbehandlung das Stillen ausgesetzt werden.

Die genauen Modalitäten der Geburt und insbesondere die Entscheidung über einen Kaiserschnitt und die Schmerzlinderung sollten sich ausschließlich nach geburtshilflichen Kriterien richten. Ein negativer Einfluss bestimmter Narkoseverfahren auf die Erkrankung konnte nicht belegt werden.

Auch während der Stillzeit sollten die immunmodulatorischen Behandlungen nicht eingesetzt werden. Sollten mehrere Schübe mit Cortison behandelt werden müssen, ist ein Abstillen und der Beginn einer immunmodulatorischen Therapie empfehlenswert.

Dr. med. Martin Rösener / Stuttgart

2. Forschungsprojekt "Kinder in Familien mit chronisch kranken Elternteil am Beispiel der MS -

Ergebnisse und Zusammenfassung
In den Jahren 1995 - 98 wurde im Auftrag der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft, in Zusammenarbeit mit dem Marie Meierhofer Institut für das Kind, beide in Zürich, ein Forschungsprojekt zur Situation von Kindern in Familien mit einem MS-betroffenen Elternteil durchgeführt. Mitarbeitende waren Julia Papst, (Projektleiterin), Silvia Dinkel, Judith Knobel und Johanna Rauber, damals alle angestellt bei der Schweizerischen MS-Gesellschaft.

Vorgehen
In die Studie wurden neun vollständige Familien mit mindestens zwei Kindern zwischen 3 und 13 Jahren einbezogen. Ein Elternteil in diesen Familien war MS-betroffen, die Symptome bereits deutlich bemerkbar. Diese Familien wurden mehrfach besucht und dabei
Ø Gespräche und Beobachtungen mit der ganzen Familie
Ø Gespräche, Zeichnungen und projektive Tests mit jedem Kind
Ø Gespräche und Genogramm mit dem Ehepaar über Kinder und Herkunftsfamilie durchgeführt, aufgezeichnet und protokolliert.
Die so erhobenen Daten wurden in Hinblick auf das Erleben und Verhalten der Kinder, ihre Beziehung zu den Geschwistern ebenso wie ihr soziales Netz analysiert. Der Ver-gleich der untersuchten Familien untereinander zeigte Möglichkeiten auf, wie Familien auch unter belastenden Lebensbedingungen für die Erziehung ihrer Kinder sorgen kön-nen und wie sie ihre Probleme zu bewältigen versuchen.

Ergebnisse
Die meisten Kinder leben vordergründig einen "normal-fröhlichen Kinderalltag". Dabei machen sie sich heimlich Sorgen um die Eltern, haben das Bedürfnis, diese zu schonen und teilen mit den Eltern das Gefühl einer allgemeinen Verunsicherung und Ängstlich-keit. Beide Elternteile erleben die Kinder oft als überlastet oder hilflos. Die Beschäfti-gung der Kinder mit der Erkrankung eines Elternteils schwankt zwischen Nichtwissen-wollen als Selbstschutz und heimlichen Fantasien über Ansteckungs- und Vererbungs-gefahren.
In unserer Untersuchung erwies sich die Art und Weise, wie Eltern mit den veränderten Möglichkeiten des betroffenen Elternteils umgehen und inwieweit der nicht betroffene Elternteil bereit und in der Lage ist, neue Aufgaben in der Familie zu übernehmen, als ausschlaggebend für den den Kindern zur Verfügung stehenden Entwicklungsraum.

Es zeigte sich, dass in Familien, in denen sich die - durch die chronische Krankheit be-dingte - Neuaufteilung der familiären Aufgabe vor allem auf Elternebene abspielt, der nicht betroffene Elternteil, unter Umständen mit Unterstützung eines gut funktionieren-den Netzes von Verwandten, Freunden, professionellen Helferinnen und Helfern, zum Garanten der Stabilität der Familie wird. Er übernimmt die Verantwortung für die Ent-wicklung der Kinder ebenso, wie für das Wohlergehen des betroffenen Elternteils. Die-ser nimmt in dem Mass, wie es ihm aufgrund der Krankheit möglich ist, an der Erzie-hung der Kinder verantwortlich teil. In einer solchen Konstellation bleiben den Kindern die grösstmöglichen Entwicklungsspielräume offen.

Ein Fortschreiten der Krankheit, vor allem mit affektiven und kognitiven Einschränkun-gen, geringe finanzielle Ressourcen, ein eingeschränktes soziales Netz, vor allem aber verborgene Paarkonflikte oder Beziehungsprobleme mit der Herkunftsfamilie bringen Familien, die eine chronische Krankheit zu bewältigen haben, häufig an die Grenzen der Belastbarkeit. Gerade unter so schwierigen Bedingungen neigen Kinder dazu, emo-tionale Aufgaben innerhalb der Familie zu übernehmen, die sie überfordern. Das Vor-handensein sozialer Netze, zumal verantwortungstragender Erwachsener, sind auch in diesen Familien entscheidend für das Heranwachsen der Kinder.

Julia Papst, lic. phil., Psychologin
Johanna Rauber, dipl. Sozialarbeiterin HFS/NDS

 
Julia Papst, Silvia Dinkel-Sieber, Judith Knobel, Johanna Rauber:
Forschungsprojekt "Kinder in Familien mit einem chronisch kranken Elternteil am Beispiel der Multiplen Sklerose". Ergebnisse
Schriftenreihe Schweizerische MS-Gesellschaft Nr. 12, 1. Auflage 1998, 225 Seiten
ISBN 3-908104-15-7 Preis Fr. 32.-
 

Redaktion: AMSEL e.V., 07.11.2006