Spenden und Helfen

Genvariante für rasche MS-Progression

Eine Genom-Studie hat eine Genvariante aufgedeckt, welche die Multiple Sklerose schneller voranschreiten lässt.

Mehr als 200 "MS-Gene" sind mittlerweile bekannt. Wobei die Gene allein nicht ausreichen, um eine MS auszulösen. Daneben braucht es, so der Stand der Wissenschaft, sogenannte Umweltfaktoren: Umstände und Einflüsse, die im weiteren Leben dazukommen, etwa bestimmte Viren oder mangelnde Sonnenexposition.

Nun hat ein Team aus Cambridge und San Francisco eine Genvariante entdeckt, welche den Krankheitsfortschritt begünstigt. Träger dieser Variante haben ein höheres Risiko, zum Beispiel ihre Gehfähigkeit einzubüßen. Eine Art genetisches Gaspedal, welches widersinnigerweise den Mobilitätsverlust beschleunigt.

Prophylaktische Medikamente, aber keine Prognose

MS ist nicht gleich MS. Es gibt Menschen mit sehr leichten, benignen Verläufen, die ihr ganzes Leben lang kaum Einschränkungen und Behinderungen durch die MS erleben. Und es gibt solche, bei denen die Krankheit sehr rasch voranschreitet. Diese Extreme sind vergleichsweise selten. Zwischen diesen beiden Polen jedoch findet sich die die Mehrzahl der Patienten. Viele kommen mit ihren Einschränkungen gut zurecht, führen trotz MS ein aktives Leben, einige werden früh verrentet, andere haben trotz Berentung Probleme, ihren Alltag zu meistern. Nur weiß man vorher nicht, zu welcher Gruppe man zählt. Wie sich die MS im Lauf des Lebens entwickeln wird. MS lässt sich bislang weder heilen noch kann man individuell den Verlauf eines Patienten vorhersagen.

Um jedoch angemessen zu behandeln, also das zum eigenen Verlauf passende immunmodulatorische Medikament wählen zu können, ohne über- oder unterzutherapieren, wären Methoden wichtig, um die Schwere des eigenen Verlaufs zu bestimmen, und zwar im Voraus. Denn die heute eingesetzten Wirkstoffe wirken prophylaktisch, können also die MS bremsen, verlorene Fähigkeiten jedoch selten wiederherstellen.

Eher auf Gehhilfen angewiesen

Genau dazu könnte der aktuelle Fund beitragen. Er muss allerdings, so befinden die Studienautoren selbst, erst noch an noch größeren Genpools überprüft werden. Das "Progressions-Gen" liegt auf Chromosom 2. Menschen mit MS, welche diese Genvariante auf beiden Chromosomen 2 haben, sind im Schnitt 3,7 Jahre früher auf eine Gehhilfe angewiesen als Menschen ohne diese Genvariante.

Das haben die Forscherinnen und Forscher um Stephen Sawcer und Sergio Baranzini herausgefunden. Dazu suchten sie in einer neuen genomweiten Assoziationsstudie nach verlaufsmodifizierenden Genvarianten. Sie haben das Erbgut von 22.000 MS-Patienten per Chip an Millionen von Stellen untersucht und mit ihren Verläufen verglichen. Und landeten einen Treffer: Es handelt sich um SNP (Single Nucleoid Polymorphism) rs 10191329.

Genvariante und endogene Viren

Auffällig ist, dass die Genvariante rs10911329 im Unterschied zu den bisher gefundenen Genvarianten nicht in Genen liegt, die mit dem Immunsystem verbunden werden. Dafür befindet sie sich in Nachbarschaft zu den Genen DYSF und ZNF683. Und diese Gene wiederum sind im Gehirn und im Rückenmark aktiv.

Das erste Gen hat mit der Reparatur beschädigter Zellen zu tun, das zweite hilft vermutlich dabei, endogene Virusinfektionen in Schach zu halten. Das ließ das Forscherteam aufhorchen, denn neben dem exogenen Epstein-Barr-Virus steht auch das endogene Retrovirus Typ W 41 unter Verdacht, eine MS mit auszulösen.

Eine zweite verdächtige Genvariante (rs 149097173) brachte zwar ebenfalls einen Unterschied hervor, dieser war jedoch mit 3,3 Jahren nicht signifikant.

Vitamin-D-Mangel, Adipositas, Rauchen und Bildungsstand

Das Forscherteam untersuchte zudem genetische Zusammenhänge zu Verdachtsmerkmalen. Sowohl Vitamin-D-Mangel als auch Adipositas werden mit dem Risiko für einen schweren Verlauf in Verbindung gebracht, statstisch betrachtet. Und es gibt Genvarianten, welche Vitamin-D-Mangel und Adipositas begünstigen. Die Genvarianten waren jedoch der Mendelschen Randomisierung zufolge (damit prüft man einen möglichen kausalen Zusammenhang) nicht ausschlaggebend für schwere Verläufe. Nach jetzigem Kenntnisstand scheinen Vitamin-D-Mangel und Adipositas also zu den erworbenen Faktoren (also nach der Zeugung bzw. oft erst nach der Geburt entstanden) zu gehören.

Nichtrauchen und ein höherer Bildungsstand, beides erworbene Faktoren, scheinen MS-Erkrankten mehr Resilienz, also Widerstandsfähigkeit zu geben: Sie kamen im Schnitt länger ohne Gehhilfe aus als Raucher und/ oder MS-Erkrankte mit niedrigerem Bildungsniveau.

Anzumerken bleibt, dass auch die signifikanten Ergebnisse aus der Studie lediglich Durchschnittswerte und Tendenzen belegen. Nicht jeder MS-Kranke mit der entsprechenden Genvariante, nicht jeder Raucher oder adipöse Patient hat automatisch einen ungünstigeren MS-Verlauf. An den Genen kann man ohnehin nichts ändern, außer seine Behandlung entsprechend anzupassen. Rauchen und Übergewicht ließen sich natürlich ändern und hätten Vorteile für jeden Einzelnen, nicht nur in Bezug auf die MS.

Quelle: University of Cambridge, 28.06.2023.

Redaktion: AMSEL e.V., 14.07.2023