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"Breite Palette an Umgangsmöglichkeiten mit der Multiplen Sklerose"

Momentan startet deutschlandweit die Kinopremiere von "Multiple Schicksale". Die AMSEL-Onlineredaktion sprach mit Prof. Dr. med. Jürg Kesselring über die Filmdokumentation.

"Multiple Schicksale" heißt das Doku-Langfilm-Debüt von Jann Kessler. Seine Mutter ist schwer betroffen von Multipler Sklerose. Das bildet den Start für seine Filmdoku, in der er sich weiteren 6 Betroffenen mit Mikrofon und Kamera nähert.

Die gezeigten Menschen stehen nicht repräsentativ für das Leben mit Multipler Sklerose. Vielmehr ist die Dokumentation eine sehr persönliche Annäherung an das Thema Leben mit MS. Manche der interviewten MS-Erkrankten sind stark beeinträchtigt von ihrer MS, weshalb der Film nicht für sensible Menschen oder Neuerkrankte geeignet ist (AMSEL.DE hat berichtet über "Multiple Schicksale" - Kinostart in Deutschland).

Im Interview erklärt Prof. Jürg Kesselring, warum und für wen er den Film sehenswert findet:

1. Herr Prof. Kesselring, als Chefarzt für Neurologie und Rehabilitation am Rehabilitationszentrum Valens sehen Sie auch schwere Fälle von Multipler Sklerose.

Prof. Jürg Kesselring: Ja – für diese müssen und wollen wir uns auch besonders einsetzen. Es gibt aber sicher sehr viel mehr Patientinnen und Patienten mit viel milderen Verläufen, zT wegen den modernen Therapien, sicher auch, weil sie aktiver sein können und gute Unterstützung haben

2. Was für ein Bild zeichnet Jann Kesslers Filmdebüt von Multiple Sklerose-Patienten ?

Prof. Jürg Kesselring: Er ist natürlich sehr beeinflusst vom Verlauf bei seiner Mutter, den er sehr sensibel darstellt, aber natürlich auch die belastenden Fragen solcher Verläufe gerade auch für die Angehörigen aufwirft.

3. Würden Sie sagen, dass die 7 gezeigten Menschen repräsentativ für alle MS-Erkrankten stehen ?

Prof. Jürg Kesselring: Nein: Es gibt zum Glück sehr viele MS-Betroffene, die auf sehr eindrückliche Weise ihr Leben trotz erheblichen Einschränkungen gut meistern.

4. Warum ist der Film aus Ihrer Sicht ein wertvoller Beitrag zur Aufklärung über MS ?

Prof. Jürg Kesselring: Für den jungen Filmemacher ist dies ja die Matura- (=Abtur-) Arbeit gewesen, handwerklich und künstlerisch eine ausgezeichnete Leistung. In der Art lädt er auch alle, die den Film sehen ein, sich mit den gezeigten Betroffenen zu solidarisieren und hoffentlich daraus die Aufforderung abzuleiten, in ihrem Umfeld etwas für PatientInnen mit ähnlichen Verläufen aktiv etwas zu tun und dadurch die Solidargemeinschaft zu fördern. Solche Impulse und Anstöße sind in unserer Gesellschaft sehr wichtig.

5. Mehrere der Betroffenen im Film sprechen über Sterbehilfe. Reiner wird bei seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Leben sogar gefilmt. – Würden Sie diesen Film jedem empfehlen ?

Prof. Jürg Kesselring: Ich rate PatientInnen und Patienten mit der Diagnose MS ,diesen Film nur in Begleitung einer auch psychisch stabilen Person anzusehen, die auch etwas von den verschiedenen Krankheitsverläufen versteht. Das gewählte Hingehen von Reiner wurde auf dessen ausdrücklichen Wunsch gefilmt, weil er in den Zeiten davor ein solches Zutrauen zu Jann Kessler, dem jungen Filmemacher, gewonnen hatte. Das ist natürlich sehr heikel. Aber es ist ebenso schwierig, wenn man sein gewähltes Vorgehen, wie "freiwillig" auch immer, als illegal und ihn damit eigentlich als Kriminellen einstuft.

6. Sterbehilfe ist ein politisches Thema, genauso wie es ein moralisches und sehr emotionales Thema ist, und daher wird an Jann Kesslers Film auch viel darüber diskutiert. Doch das ist bei Weitem nicht das einzige Thema des Films. - Welche anderen Themen

Prof. Jürg Kesselring: Eindrücklich ist halt, wie ich dies nun in 40 Jahren Berufserfahrung immer wieder begleitet habe, die breite Palette der Umgangsmöglichkeiten mit dieser "Krankheit mit den Tausend Gesichtern".

Redaktion: AMSEL e.V., 14.09.2016