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Stellungnahme zu Natalizumab

09.09.08 - Der Ärztliche Beirat der DMSG, Bundesverband zur aktuellen Beurteilung des Stellenwerts von Natalizumab bei schubförmiger Multipler Sklerose und Empfehlungen zu den notwendigen Vorsichtsmaßnahmen.

Nach der Zulassung von Natalizumab im Juli 2006 zur Therapie der schubförmigen MS werden lt. jüngsten schriftlichen Informationen des Herstellers Biogen Idec mehr als 31.000 Patienten weltweit mit diesem Wirkstoff behandelt, davon
13.900 über mehr als 12 Monate (Stand 30.6.2008). Eine detaillierte Einschätzung und Abwägung des therapeutischen Nutzens findet sich im aktuellen europäischen Konsensuspapier der MS-Therapie-Experten (MSTKG 2008) sowie der American Academy of Neurology (Goodin et al. 2008).

Zwei PML-Fälle

Nachdem Ende Juli des Jahres nun auch in Europa erstmals zwei Fälle von progressiver multifokaler Leukencephalopathie (PML) bekannt wurden, und zwar bei Patienten, die unter alleiniger Therapie mit Natalizumab standen, möchte der Ärztliche Beirat die folgende Stellungnahme abgeben:

"Nach den Informationen, die wir mit Einverständnis der betroffenen Patienten erhielten, erkrankten die beiden europäischen Patienten nach 12 bzw. 15 Monaten Natalizumab-Behandlung. Der skandinavische Patient war vorher unbehandelt und hatte eine hohe Schubaktivität; er wurde deshalb primär mit Natalizumab behandelt. Der deutsche Patient hatte eine langjährige Vortherapie mit Azathioprin erhalten.

Bei beiden Patienten war wiederholte Kernspin- und Liquordiagnostik erforderlich, bis die Diagnose der PML gesichert werden konnte, worauf rasch adäquate Behandlungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Eine Stütze der Therapie war v.a. die rasche Entfernung von Natalizumab durch Plasmaaustauschverfahren (Stueve et al. 2007), wodurch die baldige funktionelle Erholung des Immunsystems begünstigt wurde. Die beiden MS-Patienten erholen sich lt. unseren Informationen relativ gut.

Bei den beiden neu beobachteten Patienten ist die PML möglicherweise als Ausdruck einer selektiven Immunschwäche mit deutlich kürzerer Latenz aufgetreten als bei den früher berichteten Fällen. Damit ist jetzt klar, dass PML sehr wohl auch unter Monotherapie mit Natalizumab auftreten kann, und dass
wahrscheinlich mit weiteren Fällen zu rechnen sein wird. Umso wichtiger ist es, dass man bei neuen neurologischen oder psychiatrischen Symptomen auch an eine PML denkt und den diagnostischen Algorithmus zur Differenzierung zwischen
MS-Schüben und PML bereits bald nach Beginn einer Therapie mit Natalizumab durchführt.

Früh erkennen

Da die Symptomatik einer PML initial nicht typisch sein muss, sollte im Zweifelsfall eine erneute kernspintomographische Untersuchung des Gehirns und ggf. auch Liquoranalytik auf das krankheitsauslösende JC-Virus durchgeführt werden, und nur wenn kein Hinweis auf eine PML vorliegt und der klinische
Verdacht eher gering ist, darf die Therapie mit Natalizumab fortgesetzt werden. Bei unklaren Befunden sollten beide diagnostischen Verfahren wiederholt werden, um v.a. frühe Fälle mit geringer Viruslast im Liquor zu erkennen.

Im Falle eines hochgradigen Verdachts auf eine PML oder bei Nachweis von JC Virus sollte nach den vorliegenden, noch nicht im Detail publizierten Erfahrungen und Empfehlungen von Kollegen in den USA eine Plasmapheresetherapie geplant werden, um Natalizumab möglichst rasch aus dem Körper zu eliminieren. Offen ist noch, ob die Immunadsorption noch effizienter sein könnte als die Standard-Plasmapherese.
Hier besteht Forschungsbedarf.

Ob in-vitro identifizierte, virustatisch gegen JC wirkende Medikamente bei PML Patienten erfolgreich sind, wird sich im Rahmen kontrollierter Studien bei HIV Patienten zeigen.

Engmaschig überwachen

Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Umfang in Zukunft weitere Fälle von PML unter Monotherapie mit Natalizumab auftreten. Momentan sehen wir keine über die bisherigen Empfehlungen hinausgehenden Einschränkungen für den
therapeutischen Einsatz von Natalizumab, durch den viele MS Patienten, bei denen andere Therapien versagt hatten, im Alltag stabilisiert werden (Haghikia et al. 2008).

Wir appellieren an alle Ärzte und Patienten, für einen äußerst sorgfältigen Umgang mit Natalizumab zu sorgen, einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu immunsuppressiven Vorbehandlungen einzuhalten, und eine engmaschige Überwachung der Therapie mit detaillierter Dokumentation durchzuführen."

Für den ärztlichen Beirat der DMSG, Bundesverband e.V.:

  • Prof. Dr. med. Ralf Gold
    Direktor Neurologische Klinik am St. Josef Hospital, Klinikum der Ruhr-Universität
    Bochum
  • Prof. Dr. med. Hans-Peter Hartung
    Direktor Neurologische Klinik, Heinrich-Heine-Universität, Universitätsklinikum
    Düsseldorf
  • Prof. Dr. med. Reinhard Hohlfeld
    Direktor Institut für Klinische Neuroimmunologie, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität
    München-Großhadern
  • Prof. Dr. med. Heinz Wiendl
    Leitender Oberarzt Neurologische Universitätsklinik Würzburg
  • Prof. Dr. med. Klaus V. Toyka
    Direktor Neurologische Universitätsklinik Würzburg

Literatur:

  • MSTKG. Basic and escalating immunomodulatory treatments in multiple sclerosis – current therapeutic recommendations J Neurol 2008. in press
  • Goodin D. et al. Assessment: The use of natalizumab (Tysabri) for the treatment of multiple sclerosis (an evidence-based review): Report of the Therapeutics and
    Technology Assessment Subcommittee of the American Academy of Neurology.
    Neurology. 2008 Sep 2;71(10):766-73
  • Stüve O. et al. Potential risk of progressive multifocal leukoencephalopathy with natalizumab therapy: possible interventions.Arch Neurol. 2007 Feb;64(2):169-76
  • Haghikia A. et al. Natalizumab im klinischen Alltag. Nervenarzt 2008 Jun;79(6):716-9

Quelle: Hannover, den 04. September 2008

Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft
Bundesverband e.V.
Küsterstr. 8
30 519 Hannover
Tel.: 0511 / 9 68 34 0
Fax: 0511 / 9 68 34 50
E-mail-Adresse: dmsg@dmsg.de

 

Redaktion: AMSEL e.V., 09.09.2008