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Stammzellenforschung Hoffnung für MS-Betroffene?

Mit Beginn des neuen Jahres gehört Deutschland zu den Ländern, in denen an embryonalen Stammzellen geforscht werden darf. Am 23.12.02 erhielt der Bonner Hirnforscher Prof. Oliver Brüstle als erster deutscher Arzt die offizielle Erlaubnis, menschliche Stammzellen aus Israel zu importieren.

Was sind Stammzellen?
Man versteht darunter Zellen, die sich noch nicht spezialisiert haben, d.h., die Fähigkeit haben, sich zu vermehren und verschiedene Rollen im Körper zu übernehmen. Wir alle entstehen aus zwei Zellen (eine vom Vater, eine von der Mutter), die sich vereinigen und dann vermehren. Bis zum 4- oder 8-Zellen-Stadium, d.h., nach 2 bzw. 3 Zellteilungen, werden diese ersten Zellen «totipotent» ("zu allem fähig") genannt, da jede von ihnen die Fähigkeit besitzt, einen kompletten Organismus aufzubauen. Bei den weiteren Teilungen spezialisieren sich die Zellen, sind nicht mehr «zu allem fähig», aber zunächst noch «zu vielem» fähig («pluripotent»), d.h. in der Lage, zu mehreren Arten von spezialisierten Körperzellen («Somazellen») auszuwachsen. Solche pluripotenten Zellen finden sich in Embryonen, aber auch in etwa 20 verschiedenen Organen von Säuglingen und erwachsenen Menschen. Die nicht aus Embryonen gewonnenen Stammzellen werden auch «adulte Stammzellen» genannt. Sie können z.B. im Knochenmark, im Blut oder sogar im Gehirn gefunden werden und sind dort anscheinend lebenslänglich vorhanden.

Wie werden Stammzellen gewonnen?
Embryonale Stammzellen werden hauptsächlich aus überzähligen Embryonen bei der künstlichen Befruchtung oder aus dem Gewebe abgetriebener Föten gewonnen. Des weiteren können sie durch Übertragung von genetischem Material in gespendete Eizellen entstehen. Durch die Übertragung des Zellkernes einer Körperzelle in eine Eizelle wird dieser in eine Art Urzustand versetzt, d.h., es entsteht wieder eine totipotente Zelle. Diese Methode wurde auch bei dem berühmten Klonschaf Dolly angewandt.
Adulte, pluripotente Stammzellen können direkt aus den Organen, in denen sie vorhanden sind, gewonnen werden, am einfachsten aus dem Nabelschnurblut von Neugeborenen, aber auch aus dem Knochenmark sowie teilweise aus dem Blut erwachsener Menschen nach speziellen Verfahren.

Welche Hoffnungen knüpfen sich an die Stammzellforschung?
Man hofft, auf diese Weise eine schier unerschöpfliche Quelle zu haben, um Zellen, die wegen einer Krankheit zerstört sind oder falsch funktionieren, ersetzen zu können. So könnten bei MS-Betroffenen die myelinbildenden Oligodendrozyten (myelinproduzierende Zellen) oder auch zerstörte Nervenzellen selbst ersetzt werden.

Was sind die Probleme?
Wenn sich die Wissenschaft an die Einzigartigkeit des Menschen herantastet, wirft dies ethische Fragen auf und die damit verbundenen Manipulationsmöglichkeiten wecken Ängste. Aber auch in rein fachlicher Hinsicht stößt die thera- peutische Anwendung von Stammzellen an Grenzen: So ist gerade bei differenzierten Geweben ein kompliziertes Wechselspiel zwischen vermehrungsfähiger Zelle und ihrer Umgebung notwendig, um die richtige Zahl und Art von Zellen an den richtigen Ort im komplizierten Netzwerk zu bringen. Die beteiligten Signale und Faktoren sind nur teilweise bekannt. So könnten z.B. implantierte Nervenzellen zuviel des Gu-ten tun oder Fehlschaltungen verursachen. Die Zellteilungen und z. T. notwendigen Manipulationen im Reagenzglas bis zur Implantation könnten nicht erkannte Schädigungen an der Erbsubstanz dieser Zellen verursachen, die dann auf den Empfänger übertragen werden und ebenfalls zu Fehlfunktionen oder im schlimmsten Falle auch zu krebsartigem Wachstum führen könnten.
Aus diesen Gründen ist bisher bewusst
darauf verzichtet worden, Therapieversuche mit anderen als blutbildenden (hämatopoetischen) Stammzellen bei Menschen mit MS durchzuführen.

Implantation von blutbildenden Stammzellen
Blutbildende (hämatopoetische) Stammzellen, die aus dem Knochenmark gewonnen werden und in der Lage sind, sich in die verschiedenen Arten der Blut- und Immunzellen zu differenzieren, werden schon seit vielen Jahren therapeutisch bei Krebserkrankungen eingesetzt. Sie können mit einem kleinen Eingriff aus dem Knochenmark gewonnen werden. Die gewonnenen Stammzellen werden im Labor aufbewahrt und in speziellen Kulturen vermehrt. Sie können dann dem Menschen, aus dem sie gewonnen wurden, wieder zurück infundiert werden. Krebspatienten können vor der Reinfusion mit hohen Dosen von zellschädigenden Krebsmitteln, evtl. ergänzt durch Bestrahlung, behandelt werden, wobei praktisch alle Blutzellen, aber auch alle Krebszellen, im Körper eliminiert werden. Die nachfolgende Reinfusion der blutbildenden Stammzellen erlaubt dem Körper, in kurzer Zeit wieder genügend lebenswichtige Blutzellen und damit auch ein «neues» funktionsfähiges Immunsystem aufzubauen. Mit diesem Verfahren könnten bestimmte Arten von Blutkrebs, die früher unheilbar waren, erfolgreich therapiert werden. Je nach Herkunft der hämatopoetischen Stammzellen unterscheidet man autologe Stammzelltransplantation, bei der eigene Zellen wieder Verwendung finden, von allogener Stammzelltransplantation (Verwendung von Stammzellen eines anderen, genetisch ähnlichen, aber nicht identischen Individuums). Bei der autologen Stammzelltransplantation ist der größte Nachteil, dass evtl. in den Stammzellen doch noch bösartige Zellen vorhanden sind, die dann wieder zurück infundiert werden und erneut ihr schädigendes Potenzial entfalten können. Bei der allogenen Stammzelltransplantation entsteht das Problem der Abstoßung, d.h., der Unverträglichkeit mit den Spenderzellen. Man muss deshalb Medikamente geben, die das Immunsystem unterdrücken. Trotzdem lassen sich sog. chronische (anhaltende) Abstoßungsreaktionen oft nicht verhindern. Die Sterblichkeit bei der allogenen Stammzelltransplantation liegt zum Teil bei über 20%.

Erfahrungen bei der Multiplen Sklerose
Ein fehlerhaft arbeitendes Immunsystem spielt eine sehr wichtige Rolle in der Entstehung und im Fortbestehen der Multiplen Sklerose. Es liegt daher nahe, bei den zum Glück seltenen sehr aggressiven Verläufen der Krankheit das Immunsystem völlig auszuschalten und dann wieder neu aufzubauen - sofern die heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Behandlung (wie z.B. Interferon) nicht ausreichend gewirkt haben. Dementsprechend sind weltweit inzwischen etwa 150 Menschen mit MS mit diesem Verfahren der Transplantation hämatopoetischer Stammzellen behandelt worden. Dazu wurde die autologe Stammzelltransplantation ein- gesetzt, da man die hohe Komplikationsrate der allogenen Transplantation (Sterblichkeitsrate z.T. über 20%) bei einem an sich nicht lebensbedrohenden Krankheitsbild wie der MS nicht in Kauf nehmen möchte. Aber auch mit der autologen Stammzelltransplantation lag die behandlungsbedingte Sterblichkeit über 5%. Dabei ist zu beachten, dass oft sehr schwer behinderte, z.T. bettlägerige MS-Betroffene behandelt wurden, bei welchen die Komplikationsanfälligkeit natürlich viel höher war. Hinsichtlich Wirksamkeit lassen sich die bisherigen Behandlungen leider nicht eindeutig beurteilen: Sie wurden alle ohne eine «Kontrollgruppe» durchgeführt, d.h., die beschriebenen Besserungen können nicht eindeutig vom spontanen (unbehandelten) und oft sehr wechselhaften Verlauf der Krankheit unterschieden werden. Auch ist nicht klar, ob nicht gleiche Ergebnisse mit weniger Komplikationen hätten erzielt werden können durch eine einfache intensive Unterdrückung des Immunsystems, z.B. mit einzelnen zytostatischen (das Zellwachstum hemmenden) Substanzen.

Studie geplant
Um hier Klarheit zu schaffen ist eine vergleichende Studie geplant, in der eine zytostatische Behandlung (mit Mitoxantron) direkt mit der autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation verglichen wird. Wir hoffen sehr, dass uns die Ergebnisse dieser Studie wichtige Informationen zur Frage liefern, ob die autologe Stammzelltransplantation bei MS überhaupt sinnvoll ist und wer gegebenenfalls am meisten davon profitiert.

Prof. Dr. Ludwig Kappos
Mit freundlicher Genehmigung aus fortissimo der schweizerischen MS-
Gesellschaft.

Redaktion: AMSEL e.V., 22.12.2006