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MS kennt keine Grenzen

Faruk Ö. ist Alevit. Vor über 30 Jahren kam er mit seiner Familie aus der

Türkei nach Deutschland. Wenige Jahre später erhielt er die Diagnose

Multiple Sklerose. Togehter 01/14 stellt Faruk vor.

Schätzungen zufolge leben in Deutschland ca. 500.000 Aleviten. Eine Glaubensgemein-schaft, die ihren Ursprung in der Türkei hat. Auch Faruk Ö., der heute mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Landkreis Emmendingen lebt, ist Alevit. Aufgewachsen ist Faruk gemeinsam mit seinen fünf Geschwistern und seinen Großeltern in einem kleinen Dorf in Anatolien, Zentraltürkei.

Da es Ende der 1970er Jahre viele Unruhen in der Türkei gab und der Vater Angst um seine Kinder hatte, wanderte die Familie nach Deutschland aus. Faruk blieb bei seinen Großeltern und folgte 1981 im Alter von 17 Jahren als letztes Familienmitglied seiner Familie nach. Ursprünglich wollte Faruk, der in der Türkei das Gymnasium besuchte, Lehrer für Musik, Geschichte und Philosophie werden. In Deutschland angekommen war es ihm aber aufgrund seiner fehlenden Deutschkenntnisse nicht möglich, weiterhin auf ein Gymnasium zu gehen. Er wechselte auf eine Hauptschule, machte seinen Abschluss und begann im Anschluss daran eine Lehre als Autolackierer.

Sein Interesse für Musik, Geschichte und Philosophie gab er aber nicht auf. Faruk ist ein sehr neugieriger und tiefgründiger Mensch. Er liest viel und gerne. Beispielsweise Jiddu Krishnamurti, einen indischen Philosophen und Autor, Paulo Coelho, einen brasilianischen Autor, der den Bestsellerroman "Der Alchimist" schrieb oder auch Hermann Hesse, einen der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller. Doch beeindruckt haben ihn vor allem auch Schiller, Einstein, Mozart, Beethoven. Ganz besonders aber Immanuel Kant und die Germanische Geschichte.

MS in der Türkei

  • Ca. 30.000 MS-Betroffene
  • Eine Sozialhilfe oder Pflegeversicherung gibt es nicht, um pflegebedürftige Menschen kümmert sich die Familie
  • Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt Versicherten eine minimale medizinische Grundversorgung. Sie schließt zwar eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern ein, die aber oftmals unzureichend ausgestattet sind. Es gibt lange Wartelisten. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte grundsätzlich einen Eigenanteil von 20% tragen. Zudem müssen viele medizinische Leistungen vollständig selbst bezahlt werden, wie teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren.
  • Gut ist die Versorgung in privaten Kliniken und Arztpraxen. Aber nicht viele können sich das leisten
  • In ländlichen Regionen ist die medizinische Versorgung unzureichend
  • Auf 1000 Einwohner kommen 1,7 Ärzte; Im Vergleich zu Deutschland 3,8 Ärzte

Angst vor dem Unbekannten

Als 23-Jähriger merkte Faruk erstmals, dass etwas mit seinem Körper nicht stimmte. Damals war er gerade mit seiner Frau auf dem Weg zu seinen Schwiegereltern. "Beim Bremsen habe ich gemerkt, dass das Auto nicht langsamer werden wollte. Ich habe mehr Kraft gebraucht als sonst", erinnert sich der heute 50-Jährige "und als ich das Auto abschließen wollte, ist mir der Schlüssel aus der Hand gefallen". Zum Arzt ging er aber erst, als er eines Morgens wach wurde und feststellte, dass seine rechte Körperhälfte "wie zugeklemmt" war. Zunächst fiel der Verdacht auf einen Tumor, der nach einigen Tagen stationären Klinikaufenthalts mit der Diagnose "Encephalomyelitis disseminata" entkräftet wurde. Er hatte Angst. Aber es war eine Angst vor dem Unbekannten. Denn mit dem Fachbegriff konnte Faruk damals nichts anfangen. Er arbeitete jahrelang weiter. Obwohl er merkte, dass er langsamer wurde, mehr und mehr hinkte. Bis Anfang 2000. "Da konfrontierte mich der Arzt erneut mit der Krankheit, die er diesmal Multiple Sklerose nannte, und riet mir, mich von der Arbeit zurückziehen, bevor ich irgendwann auf der Arbeit zusammenbrechen würde."

Zu diesem Zeitpunkt ist der Emmendinger noch offensiv mit seiner Erkrankung umgegangen. Heute macht er das nicht mehr. "Ich sage es nur denjenigen, die es auch wirklich hören oder verstehen wollen." Eine Wendung, die nicht verwunderlich ist, angesichts der Erfahrungen, die er in seinem Umfeld gemacht hat. Freunde und Kollegen haben sich oft lustig gemacht. So sagte ein Arbeitskollege einmal, als Faruk ihm die Hand schüttelte, "Du gibst die Hand wie totes Fleisch". Worte, die ihn sehr verletzt haben. "Sie haben einfach nicht verstanden, worum es ging. Und bis heute hat sich nicht wirklich jemand getraut zu fragen, was eigentlich los ist." Kein Einzelfall, denn manchmal reagieren auch Passanten oder selbst erkrankte Menschen boshaft. Beispielsweise, wenn er sich beim Einkaufen mit dem Auto auf einen Behindertenparkplatz stellt. Für ihn sind die Reaktionen unverständlich. Er wünscht sich, dass Menschen sich mit mehr Achtung, Nächstenliebe und Offenheit begegnen. "Nicht das Körperliche allein macht einen Menschen aus", sagt der Alevit "wichtig sind der Geist und vor allem seine Seele."

Der Weg zu sich selbst

"Ich stelle mir den Menschen wie eine Kutsche vor. Die Pferde symbolisieren unsere Gefühle. Die Kutsche den Körper. Der Kutscher ist der Verstand. Und die Seele ist der Fahrgast, der im Wagen sitzt. In welche Richtung man fährt, kommt darauf an, wer die F

Gleichnis aus der indischen Philosophie

Faruk, der eine schleichend fortlaufende Form der MS hat, geht regelmäßig zum Arzt, zum Physiotherapeuten oder auch zum Osteopathen. Doch eine wesentliche Rolle nehmen für ihn die Alternativen Methoden ein. So dient die regelmäßige Körperentgiftung nicht allein der äußerlichen körperlichen, sondern vor allem der inneren, seelischen Reinigung. Gerne nutzt er auch Shiatsu, eine in Japan entwickelte Körpertherapie, bei der entlang der Energieleitbahnen im menschlichen Körper mit den Fingern gezielter, einfühlsamer Druck ausgeübt wird, um Blockaden aufzulösen und einen freien Fluss der Energie herzustellen. Qigong und Meditation sind Teil seines Alltags geworden. Hier versucht er, mit sich selbst in Kontakt zu treten, Körper, Geist, Seele und Atem in Gleichklang zu bringen.

Ängste und negative Gefühle in den Hintergrund treten zu lassen. Stattdessen Ruhe und Kraft zu finden. "Man soll keine Angst vor der Angst haben", so Faruk "sondern versuchen, mit sich selbst Frieden zu finden, die Krankheit anzunehmen lernen, das Positive sehen". Das fängt bei ihm schon beim morgendlichen Aufstehen an: "Ich finde es wichtig, mich nach dem Aufwachen erst einmal zu bedanken. Dafür, dass ich überhaupt meine Augen öffnen, meine Füße und Hände bewegen darf."

Der Familienvater liebt die Natur und auch das Musizieren. Die Musik besitzt im Alevitentum eine überaus wichtige Funktion. "Wir beten durch Musik", erklärt Faruk. Begleitet vom Saiteninstrument Saz werden Lieder im so genannten Cem-Gottesdienst mit meditativem Inhalt vorgetragen, die tiefgründig, positiv stimmend und beruhigend sein sollen. "Aber um zu glauben" führt Faruk weiter aus, "muss man nicht in die Kirche oder in die Moschee gehen. Weil Gott überall ist." Werte wie Toleranz, Religionsfreiheit, Nächstenliebe, Geduld, Bescheidenheit, Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft sowie Wissen und Bildung sind im Alevitentum elementar. Der Mensch und das Verhältnis zum Mitmenschen stehen im Mittelpunkt. Ob gesund oder krank, ob deutsch oder türkisch, Faruk betrachtet alle als gleichwertig, "als Mensch", wie er betont "für mich gibt es keine Nationalitäten oder Grenzen."

Der Name der Person wurde von der Redaktion geändert.

Redaktion: AMSEL e.V., 10.04.2014