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Ich liebe das Leben: damals wie heute – 50 Jahre leben mit Multipler Sklerose (MS)

Multiple Sklerose galt vor 50 Jahren noch als unbeherrschbar, heute ist die Erkrankung meist gut zu behandeln. Von strenger Bettruhe zu digital unterstützten Bewegungskonzepten, von Kortison als einziger verfügbarer Medikation zu heute 18 zugelassenen Wirkstoffen, von der Ausgrenzung zur Integration – ein langer Weg, den auch Bärbel mitgegangen ist. Die Nagolderin blickt auf 50 Lebensjahre mit MS zurück.

Es war 1972, als Bärbel mit 23 Jahren – unwissentlich – ihren ersten Schub mit Sehstörungen und Lähmungserscheinungen erlebte. Nach etwa sechs Wochen konnte sie wieder sehen und sich bewegen, die Diagnose Hirntumor war damit hinfällig. Damals studierte sie Wirtschaftswissenschaften an der Uni Augsburg. 1974, kurz vor den Abschlussprüfungen, erhielt sie nach erneutem Schub die Diagnose MS. Die Prognose des Chefarztes: „Mit dreißig sitzen Sie im Rollstuhl, Ihren 40. Geburtstag werden Sie nicht erleben.“

Mit der Diagnose behielt der damalige Arzt Recht, mit seiner Prognose nur zum Teil. Verordnet wurde in den 1970er-Jahren einzig strikte Bettruhe und Kortison, das 1960 als erste Behandlungsmöglichkeit von MS-Schüben zugelassen wurde, etwas anderes gab es nicht. Um das Fortschreiten der MS zu verhindern, wurde Bärbel auch mit dem unspezifischen Immunsuppressivum Azathioprin behandelt, allerdings mit Pausen aufgrund von Unverträglichkeiten. Nach fast 40 Jahren wurde es bei ihr abgesetzt, da es in Verdacht kam, krebserregend zu sein. Ein Versuch mit einem S1P-Rezeptor-Modulator musste wegen gravierender Herzrhythmusstörungen abgebrochen werden. Zum Glück wurden die Intervalle zwischen den Schüben mit der Zeit größer. Die Kortison-Stoßtherapie, die Bärbel alle drei bis vier Monate benötigt, verträgt sie gut. Allerdings, so die Diplomökonomin, blieb von jedem Schub etwas zurück. Sie hat die sekundär progrediente Verlaufsform der MS. Am meisten beeinträchtigen sie aktuell Lähmungserscheinungen, Sensibilitätsstörungen und Fatigue.

Kämpfen musste sie an den verschiedensten Fronten: Die Karriere in der Industrie blieb ihr verwehrt, Schwerbehinderte wurden auch mit Prädikatsexamen nicht eingestellt. Für das Lehramt musste sie ein weiteres Fach studieren. Verbeamtung war bei ihrem Gesundheitsstatus damals nicht möglich. Um wenigstens eine Stelle im Angestelltenverhältnis zu bekommen, musste sie mit Klage drohen. Trotz vieler Schikanen wie Einsatz in den schwierigsten Klassen und regelmäßigen Unterrichtsbesuchen durch ihren Chef war sie bis zu ihrem Ruhestand im Schuldienst. Auch ihre Position in der Familie musste sie sich über viele Jahre erkämpfen, denn ihre Schwiegerfamilie war alles andere als begeistert davon, dass Bernd eine „Schwerbehinderte“ heiratete.

Als Meilensteine ihrer „MS-Karriere“ sieht die Kämpferin ihre runden Geburtstage:

  • Ihren 30. feierte sie im Rollstuhl im Krankenhaus.
  • Zum 40. empfing sie ihre Gäste wackelig, aber stehend am Rollator.
  • Ihr 50. brachte den Wendepunkt: „Mit 50 roten Rosen im Arm wusste ich plötzlich: Du hast es geschafft, du lebst mit deiner MS und nicht die MS mit dir!“

Heute kann die ehemalige Hobbysportlerin (Reiten, Segeln, Rad- und Skifahren) mit Stöcken und kleinem Rucksack zur Stabilisierung ihrer Rumpfataxie mit ihrem Mann kleine Wanderungen unternehmen und wieder schwimmen.

Vieles verloren und doch gewonnen

Die Lebensplanung geriet damals komplett aus den Fugen. Bärbel war recht schnell auf einen Rollstuhl angewiesen, verzweifelt und wütend. Verlobt war sie mit Bernd, ihrem früheren BWL-Dozenten an einer Wirtschaftsakademie und späteren Professor einer Stuttgarter Hochschule. Die beiden wollten heiraten, eine Familie gründen, drei Kinder haben. Eine Schwangerschaft mit MS war damals jedoch undenkbar. „Die MS hat mir meinen Kinderwunsch genommen, meine Reiselust eingeschränkt, meine Karrierepläne in eine Richtung gelenkt, die ich so nicht wollte. Aber sie hat mich zur Kämpferin gemacht“, so die gebürtige Stuttgarterin. Ihre Zukunftsängste schob sie beiseite. Rückblickend denkt sie, dass ihr Mann mehr Ängste und Verzicht auszuhalten hatte als sie selbst.

Pragmatische Lösungen im Leben mit Multipler Sklerose

Keine eigenen Kinder? Man kann sich auch an den Kindern von Nachbarn und Freunden erfreuen, sie beim Start ins Leben begleiten, beim Studium finanziell unterstützen. Soziales Engagement lag dem Ehepaar ohnehin am Herzen. Fernreisen mit langen Flügen sind nicht möglich, südliche Länder aufgrund des Uhthoff-Syndroms indiskutabel? Es muss nicht das Lieblingsziel Provence sein, die Bretagne oder Skandinavien bieten (fast) genauso reizvolle Ziele. Der Traum vom Studium an der Pariser Sorbonne wegen der MS ausgeträumt? Ein Französisch-Konversationskurs schafft Ausgleich, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls.

Wichtig sind nach Bärbels Erfahrung auch die richtigen Ratgeber und Unterstützer: Ihre Lehrer gaben ihr beruflich wichtige Impulse. Das Prüfungsamt ermöglichte ihr mit Sonderregelungen den Studienabschluss. Und nicht zuletzt fand sie Unterstützung durch ihre behandelnden Ärzte: mit Fachwissen, Gutachten und Attesten. Außerdem erzielte ein spezifisches Bewegungstherapiekonzept während ihrer Aufenthalte in einer MS-Spezialklinik, die sie regelmäßig aufsucht, vor vielen Jahren einen Durchbruch bei Bärbel und stellte sie buchstäblich wieder auf die Füße.

Paradigmenwechsel in 50 Jahren Leben mit MS

Auch wenn noch viele Nachteile angegangen werden müssen – seit den 70er-Jahren hat sich einiges getan, der frühere Malus „Schwerbehinderung“ hat sich gewandelt: Anstelle von Ausgrenzung geht es heute um Integration in Beruf und Gesellschaft, geregelt in der Sozialgesetzgebung. Selbst der Beamtenstatus sei heute trotz MS zu erlangen, so die Ökonomin. Die heutige Diagnostik mit MRT-Bildgebung war für sie nach Jahren der Ungewissheit eine Offenbarung zum Verständnis ihrer Krankheit. Anders als in den 1970er-Jahren gibt es vielfältige Therapieoptionen und individuell angepasste, wirksame Medikamente. Selbst Kinderwunsch lässt sich heute realisieren. Im Vergleich zu damals empfindet Bärbel die Informations- und Hilfsangebote als immens.

Schade, dass sie mit ihren 73 Jahren nicht mehr in den Genuss des medizinischen Fortschritts kommen kann. Vielleicht hätten die neuen Medikamente ihren Krankheitsverlauf abmildern können. Aber kein Grund zur Bitterkeit. Bärbel ist froh und dankbar für ihr wundervolles Leben (mit MS), das ihr Ärzte und Therapeuten, ihre Freunde und an allererster Stelle ihr Ehemann ermöglicht haben. Der Titel ihres Lieblingslieds spricht Bände: „Non, je ne regrette rien“. Bärbel bereut nichts, jeder Kampf hat sich gelohnt.

Quelle: together, 04.22

Redaktion: AMSEL e.V., 31.07.2023