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Entwicklungen bei der medikamentösen Therapie der Multiplen Sklerose

31.05.07 - In der Together-Ausgabe 02/2007 berichtet Prof. Dr. Horst Wiethölter, Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik des Bürgerhospitals Stuttgart, über die Neubewertung der aktuellen, sowie über die neu zugelassenen und die in Aussicht stehenden Therapiestrategien.

 

In regelmäßigen Abständen formuliert und revidiert die MSTKG (Multiple Sklerose Therapie Konsensusgruppe) Konsenskriterien, mit denen Empfehlungen gegeben werden, wie die Behandlung der verschiedenen Formen und Verläufe der MS zu unterschiedlichen Zeitpunkten am effektivsten nach Meinung und Erfahrung einer großen Gruppen von MS-Experten auf Basis jeweils aktuellen wissenschaftlichen Literatur durchgeführt werden kann (Abb.1).

"Immunmodulatorische Stufentherapie nach Empfehlung der MSTKG, 2006"
(Erklärung: Beta-IFN= Interferon beta, GLAT= Glatirameracetat, IVIG = intravenöse Immunglobuline)

Danach wird die Behandlung eines akuten Schubes von der Basis- und Eskalationstherapie der schubförmigen und sekundär chronisch progredienten Verläufe abgegrenzt.

Therapiestrategien

Es gibt einige Therapiestrategien, die neu zugelassen worden sind, andere, die bereits zugelassen waren und eine neue Bewertung erfahren haben und schließlich solche, die in absehbarer Zukunft Aussicht haben, umgesetzt werden zu können.

(Erklärung: IFN = Interferon, AZA= Azathioprin, GLAT=Glatirameracetat)

Neue zugelassene Strategien

Behandlung eines akuten Schubes
Für den akuten Schub gilt die Behandlung mit Methylprednisolon (Urbason®) – bevorzugt als morgendliche Infusion von je 500 – 1.000mg an 3-5 aufeinanderfolgenden Tagen - als Therapie der Wahl, wenn eine entsprechend relevante Symptomatik vorliegt.

Ein akuter Schub wird definiert als Auftreten eines oder mehrerer neuer oder bereits rückgebildeter Krankheitssymptome mit einer Dauer von mehr als 24 Stunden. Der Abstand zum vorangegangenen Schub muss mindestens 30 Tage betragen, um andere Ursachen (z.B. Fieber mit Temperatur bedingter rein funktioneller Symptom-Zunahme = Uhthoff-Phänomen) auszuschließen. Nach der Phase mit Infusionen kann mit Tabletten in absteigender Dosierung (täglich etwas weniger) über 10-14 Tage ausgeschlichen werden.

Ist nach dieser Therapie kein ausreichender Effekt eingetreten, kann 14 Tage später, nach neurologischer Befundkontrolle, eine höher dosierte Cortison-Therapie (z.B. 2g Methylprednisolon an fünf aufeinanderfolgenden Tagen) erfolgen.

Alternativ oder bei deutlicher weiterer Befundverschlechterung kann dann eine Plasmapherese-Behandlung als Eskalationstherapie eines akuten Schubes notwendig werden. Bei der Plasmapherese wird eine Art "Blutwäsche" durchgeführt, bei der kontinuierlich Blut entnommen wird, das in einem Trennschritt in flüssige (Plasma) und feste Bestandteile (Blutzellen) aufgetrennt wird. Die Blutzellen werden zusammen mit einem Plasma-Ersatz wieder zurück infundiert. Durch diese Prozedur werden unspezifisch viele lösliche Faktoren, darunter auch solche, die den Entzündungsprozess im Gehirn unterhalten (z. B. Antikörper) dem Blut entzogen. Bei besonderen Formen der Multiplen Sklerose (z.B. der Neuromyelitis optica = entzündliche Erkrankung von Sehnerv und Rückenmark) kann die Plasmapherese aller Voraussicht nach auch unabhängig vom akuten Schub erfolgreich eingesetzt werden. Weitere Spezifizierungen der Einsatzgebiete werden derzeit noch untersucht.

Behandlung der schubförmigen MS
Die Eskalationstherapie bei der schubförmigen MS kommt zum Einsatz, wenn die Basistherapie (z.B. mit Glatirameracetat, einem Interferon oder Azathioprin) wegen fehlender oder nicht ausreichender Wirkung durch eine wirkungsvollere Therapie er-setzt werden muss.

Eine neue Option der Eskalationstherapie ist neben der etablierten Gabe von Mitoxantron die Behandlung mit Natalizumab (Tysabri®). Natalizumab ist ein Antikörper gegen ein Erkennungsmolekül auf Zellen, die aus dem Blut in das Hirn einwandern wollen, um eine akute Entzündung (Schub) auszulösen. Es verhindert, dass Entzündungszellen den Weg in das Gehirn finden. Natalizumab ist ein Antikörper, der sich aus einem menschlichen und einem Eiweißkörper der Maus zusammensetzt.

Zwei gut durchgeführte Studien haben die überzeugende Senkung der Schubhäufigkeit bei behandelten Patienten mit schubförmigem Verlauf beweisen können. Allerdings ist als Nebenwirkung bei insgesamt drei Patienten eine schwere Hirnentzündung (progressive multifokale Leukencephalopathie = PML) aufgetreten, so dass Natalizumab ab Juni 2006 mit Einschränkungen auch bei uns zugelassen ist.

Es darf nur als Einzel(Mono-)therapie (nicht kombiniert mit anderen Immunmodulatoren) bei Unwirksamkeit von Interferonen (aber auch Glatirameracetat) und anderen Immunmodulatoren unter kontrollierter Überwachung durch einen Facharzt in Zentren mit raschem Zugang zum MRT durchgeführt werden, bei unbehandelten Patienten auch bei rasch fortschreitender rein schubförmig verlaufender MS. Patienten mit zusätzlichen anderen Autoimmunerkrankungen oder älter als 65 Jahre sollten Natalizumab nicht bekommen.

Alle vier Wochen werden 300 mg als Infusion über eine Stunde verabreicht. Mehr als zwei Stunden muss nachbeobachtet werden, da vor allem nach den ersten Behandlungen Unverträglichkeitsreaktionen (allergische Reaktionen bis zu 9%) mit sehr selten auch bedrohlichen Folgen auftreten können. Meistens aber wird Natalizumab problemlos vertragen.

Bei einem Therapiewechsel von immunsuppressiv wirkenden Substanzen, wie Azathioprin oder Mitoxantron zu Natalizumab, sollte mindestens eine Therapiepause von drei Monaten eingehalten werden.

Natalizumab als Monotherapie stellt in der Eskalationsbehandlung hochaktiver schubförmiger MS-Verläufe eine neue Behandlungsoption dar. Allerdings nur nach ausführlicher Aufklärung der Patienten und nach gründlicher Abwägung gegenüber dem ebenfalls mit Risiken behafteten Mitoxantron.

Neue Bewertung zugelassener Therapien

Vor allem die Kombinationen von verschiedenen Medikamenten, die für sich alleine jeweils zugelassen sind, bieten interessante Möglichkeiten, sind durch entsprechende Studien aber nicht ausreichend belegt.

Eine mögliche Kombination stellt die Gabe von Interferon und Azathioprin dar. Es gibt zwar keine kontrollierten Studien, in Einzelfällen aber positive Erfahrungen, insbesondere bei Patienten mit nachweisbaren neutralisierenden Antikörpern (NAK) gegen Interferon Beta.

Denkbar ist auch die Kombination von Glatirameracetat mit einem Statin, das sonst nur zur Behandlung erhöhter Cholesterinwerte im Blut eingesetzt wird. Statine können in Abhängigkeit von der Dosierung Nebenwirkungen haben (z.B. Muskelschmerzen und –schwäche), so dass selbst eine durch eine Cholesterinerhöhung gerechtfertigte Statin-Gabe in möglichst geringer Dosierung (z. B. 10 mg Atorvastatin) kombiniert werden sollte. Eine derzeit laufende klinische Studie wird über Dosis und Wirkung Auskunft geben.

Obwohl in der Eskalationstherapie Mitoxantron einen gesicherten Stand hat und in der Lage ist, den Verlauf der MS um mehr als 80% zu stabilisieren, kann die MS unter Mitoxantron vereinzelt mit weiteren Schüben aktiv bleiben. Sind andere Ursachen der Verschlechterung ausgeschlossen, lassen sich Effektivität und Verträglichkeit von Mitoxantron dadurch erhöhen, dass ein Cortison-Puls (z. B. 1.000 mg Methylprednisolon i.v.) der Gabe von Mitoxantron einen Tag zuvor vorangestellt wird.

In Aussicht stehende Therapien

Von den verschiedenen, derzeit bereits in klinischen Zulassungsstudien befindlichen Substanzen ist Fingolimod (FTY 720) das aussichtsreichste, zudem als Tablette verfügbare Medikament. Es führt bei täglicher Einnahme zu einer "Gefangennahme der Lymphozyten im Lymphknoten". Die für die Entzündung verantwortlichen Lymphozyten können damit nicht mehr im Blut zirkulieren und in das Gehirn einwandern. In Vorstudien konnte die Schubrate im Vergleich zum Placebo um etwa 50% gesenkt werden und die Aktivität im MRT um ca. 80%, gemessen an dem Nachweis frischer Läsionen.

Weitere Substanzen sind Cladribin, das ebenfalls in Tablettenform vorliegt und derzeit in einer großen, für die Zulassung gedachten, klinischen Studie (Phase III-Studie) getestet wird, und Teriflunomid, ebenfalls oral als Tablette einsetzbar und ebenfalls in einer weltweiten Studie in Testung.

Insgesamt lassen sich für die aktuelle Situation und für die nahe Zukunft effektive Therapiestrategien beschreiben und voraussagen. Die Erfahrung mit Natalizumab zeigt aber auch, wie sorgfältig man auch in den Jahren nach Einführung einer Substanz auf Nebenwirkungen achten muss, die in den relativ kurzen zur Zulassung führenden Studien nicht erfasst werden können. Eine neue Bewertung ist somit in regelmäßigen Abständen erforderlich.

Professor Dr. Horst Wiethölter

Redaktion: AMSEL e.V., 31.05.2007