Diagnose der Multiplen Sklerose

Die Liquoruntersuchung dient der Diagnose und auch der Einschätzung des weiteren Verlaufs, so Prof. Hayrettin Tumani im AMSEL-Expertenchat.

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, um 19 Uhr geht es los, Sie können aber gern jetzt schon Fragen posten oder sich untereinander unterhalten - in der "Plauderecke".

Winni: Guten Abend, warum wissen manche ihre Diagnose gleich und bei anderen Patienten dauert es mehrere Jahre?

Prof. Hayrettin Tumani: Für die Diagnosestellung müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. Diese können zu Beginn der Erkrankung noch unvollständig sein, so dass nur aus dem weiteren Verlauf die Diagnose gesichert werden kann. Da das Symptomenspektrum und der Verlauf der MS sehr vielgestaltig sein kann, kann tatsächlich die Diagnosestellung etwas dauern.

Prof. Dr. med. Hayrettin Tumani

Geschäftsführender Oberarzt, Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität Ulm

  • Facharzt für Neurologie
  • klinisch-wissenschaftliche Schwerpunkte: Multiple Sklerose, Neuroborreliose, Entzündliche ZNS-Erkrankungen, Liquordiagnostik
  • wissenschaftliches Arbeitsgebiet: Biomarker für laborchemische Früh- und Differentialdiagnostik bei Multiple Sklerose und neurodegenerativen Erkrankungen, Proteomische Untersuchungen

gerda: hallo herr prof.tumani, guten abend und danke schon mal. meine frage: braucht man zur diagnose-stellung den nachweis von oligoklonalen im liquor? mutmaßlicher erster schub war 1973, doppelbilder 1987.

Prof. Hayrettin Tumani: Es gibt zwei Argumente für die Untersuchung des Liquors: 1. Da die Diagnose einer MS nach wie vor eine Ausschlussdiagnose ist, sollten durch die Liquoruntersuchung andere MS-ähnliche Erkrankungen ausgeschlossen werden, die mittels Bildgebung nicht erkannt werden können. Wenn oligoklonale Banden fehlen, ist die wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass keine MS vorliegt. 2. Mit der Liquoruntersuchung kann die entzündliche Natur der Erkrankung auch im frühesten Stadium nachgewiesen werden. Das kann für die Einschätzung des weiteren Verlaufs hilfreich sein. Der Entzündungsnachweis im Gehirn gelingt beispielsweise mit der Bildgebung in der Regel nicht so sicher wie mit dem Liquor.

Gernot: Wenn man kein MRT und keine Liquorabnahme machen könnte, wäre die MS anhand der Symptome dennoch zu diagnostizieren? Welche Symptome halten Sie für typisch?

Prof. Hayrettin Tumani: Als noch keine Möglichkeiten der Untersuchung mit MRT und Liquor existierten, konnte die Diagnose der MS dennoch gestellt werden, allerdings verbunden mit diagnostischer Unsicherheit. 1. Viele andere Erkrankungen, die MS-ähnliche Beschwerden bieten, aber keine MS sind, wurden fälschlicherweise für MS gehalten. 2. Ohne MRT und Liquor gelang die Diagnosestellung erst viele Jahre nach Auftreten der ersten Beschwerden.

Jessy: Mein Neuro sagte, die Symptome stimmen alle und außerdem sei ich eine Frau. Er wusste schon vor den Tests was es ist. Warum sind Frauen so oft betroffen?

Prof. Hayrettin Tumani: Das ist noch nicht genau bekant. Vermutlich hat es mit den weiblichen Erbanlagen zu tun.

Guido: Hallo Prof. Tumani, Diagnose MS 6/2012 Symptome wurden mit 5g Kortison behandelt. Verlauf hat sich verbessert. Was halten Sie von einer hochdosierten Gabe von B12 und Kalzium und woran erkenne ich in welcher Phase ich mich gerade befinde? Guido

Prof. Hayrettin Tumani: B12 und Kalzium sind nur dann erforderlich, wenn ein Mangel an diesen Substanzen nachgewiesen worden ist. Bei einem ersten Schub handelt es sich in der Regel um die Frühphase der Erkrankung, die anhand des MRT-Befundes und des Liquors zusätzlich eingeschätzt werden kann.

gerda: hallo frau fleischmann, habe festgestellt, dass mindestens eine frage beantwortet sein muß, kann sie aber nicht "sehen". lg

Moderator Patricia Fleischmann: @gerda: Dann müssen Sie auf "unbeantwortete Fragen" klicken; dort sind alle, die noch nicht beantwortet wurden.

Moderator Patricia Fleischmann: Hej, liebe Chatter, es sind ein paar von Ihnen online und solange Sie auf Prof. Tumanis Antworten warten, dürfen Sie sich auch gern in der Plauderecke unterhalten. Liebe Grüße an alle.

gerda: herr prof.tumani, ich hatte mich leider nicht vollständig ausgedrückt: bei mir wurde eine ms diagnostiziert ohne nachweis von oligoklonalen im liquor! es wurde nicht für notwendig gehalten. vielen dank für die antwort.

Prof. Hayrettin Tumani: Nach den neueren Diagnosekriterien ist das zwar möglich, aber die diagnostische Sicherheit ist dann leider gering, weil andere MS-ähnliche Erkrankungen nicht sicher abzugrenzen sind.

Jessy: Wenn der Frauenanteil viel höher ist bei MS als der Männeranteil, dann ist doch klar, dass Vererbung eine große Rolle spielt oder? Vielleicht wird MS zum Glück nicht dominant vererbt, aber eben doch vererbt plus irgendwas, Umweltfaktor sagt man dazu glaube ich. Ich verstehe immer nicht, warum alle die Erblichkeit bei MS so runterspielen. Oder hab ich da was falsch verstanden im Biologieunterricht?

Prof. Hayrettin Tumani: Die Erblichkeit ist ein Faktor neben Umweltfaktoren. Es gibt viele indirekte Hinweise für die Bedeutung der Erbanlagen (z.B. familiäre Häufung), aber welche Erbanlage der wesentliche Faktor ist, ist noch unklar. Heute geht man davon aus, dass eine Konstellation von genetischen Veränderungen die Entstehung der MS begünstigt (in der Fachsprache: genetische Prädisposition).

Andy: Bei meiner Freundin besteht Verdacht auf MS, aber sie hat nur drei Läsionen, sichere Diagnose erst ab 5, sagt ihr Arzt. Woher können die Läsionen denn sonst kommen wenn nicht von der mS?

Prof. Hayrettin Tumani: Eine Diagnosesicherheit alleine aufgrund der Läsionszahl ist nicht möglich, auch nicht ab 5 Läsionen. Unabhängig vom MRT-Befund ist es entscheidend, dass viele andere Erkrankungen mit verschiedenen Ursachen ausgeschlossen werden, wie z.B. andere Autoimmunerkrankungen, Infektionen, Stoffwechselstörungen, Durchblutungsstörungen, etc....

Jessy: Noch eine doofe Frage: Kann man da nicht einfach bei den Frauenchromosomen suchen?

Prof. Hayrettin Tumani: Hat man schon gemacht, aber leider nicht ergiebig gewesen.

Gernot: Welche Krankheiten können ähnliche Symptome über mehrere Jahre hervorrufen wie Multiple Sklerose?

Prof. Hayrettin Tumani: am häufigsten andere Autoimmunerkrankungen mit Beteiligung des Gehirns, seltener chronisch-infektiöse und Stoffwechsel-Erkrankungen

Tausendschönchen: Wird lediglich während eines sogn. Schubes die Myelinschicht der Nerven im Gehirn und Rückenmark, oder auch die der Nerven der geschädigten Regionen (Extremitäten) geschädigt?

Prof. Hayrettin Tumani: Zunächst wird die Myelinschicht geschädigt, wobei dieses auch unabhängig von den Schüben passieren kann (die MS schläft nie!). Später werden auch die unter der Myelinscghicht liegenden Axone geschädigt, auch an Regionen, die man im MRT nicht immer sehen muss.

Gernot: Welches ssind die aktuellen Diagnosekriterien für MS?

Prof. Hayrettin Tumani: Die sogenannten "McDonald 2010"-Kriterien. hiernach kann die Diagnose bereits gleich bei dem ersten Schub gestellt werden, wenn bestimmte Konstellation von Beschwerden und MRT-Befunde vorliegen.

Synapse: Guten Abend, in einem aktuellen Beitrag auf der Amsel-HP habe ich folgendes gelesen:"Erst seit 2004 lässt sich die Neuromyelitis optica (NMO) mittels einem ähnlichen Bluttest von der "normalen MS" unterscheiden und behandeln (je nach Auffassung ist NMO eine Sonderform der MS oder eben keine MS)." Somit las ich das erste Mal von der NMO und hörte auch noch nie von anderen Patienten irgendetwas von Differentialdiagnose. Wie lässt sich eine NMO klar von MS abgrenzen?

Prof. Hayrettin Tumani: Bei der NMO betreffen die Entzündungen primär die Sehnerven und das Rückenmark. Mit dem Bluttest (Antikörper gegen Aquaporin-4) lassen sich ca. 75% der NMO's sicher diagnostizieren. Die Restlichen 25% sind tatsächlich von der MS klinisch nur schwer, aber über den Liquor sicher abgrenzbar. Bei NMO kommen oligoklonale Banden nicht so häufig vor, eine weiterer spezifischer Liquor-Test (MRZ-Reaktion) ist bei NMO so gut wie nie zu sehen.

Kim: Sehr geehrter Herr Prof. Tumami, ich habe eine Frage zu meinem Liquor-Befund, den ich mir wie alle Unterlagen habe geben lassen. Es zeigt sich eine dreiklassen-Reaktion ohne Schrankenstörung (lokale Synthese IgG 27,1% // IgA 22,3% // IgM 15,7%) mit oligoklonalen Banden im Liquor, nicht im Serum und als weiteres "Sternchen" im Befund 22 Leukos pro ul. Sonst alles normal. Leider wurde beim KH Aufenthalt keinerlei weitere Diagnostik betrieben (zB keine AK sonst im Liquor & nur kleines Blutbild). Habe auf mein Drängen später noch ambulant per Blutabnahme AK Borrelien, ANA und Cardiolipin machen lassen. Alles negativ. Meine MS ist eine ganz "brave" ohne große Beschwerden. Die MRT Aufnahmen im 3Tessla zeigen immer wieder winzige Veränderungen quer verteilt, die anderen MRT Geräte finden seit 5 Jahren keine neuen Herde zu den Bestehenden (wenigen). Würden Sie denn aufgrund des Liquorbefundes und der bisher nur rudimentären Diff-Diagnostik noch irgendwelche Befunde/ Untersuchungen als sinnvoll erachten? Vielen Dank und Grüße

Prof. Hayrettin Tumani: Die Dreiklassen-Reaktion ist untypisch für eine MS, daher sollten weitere DD's abgeklärt werden, z.B. FSME, MRZ-Reaktion in einem erneut abgenommenen Liquor.

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, ein eher ruhiger Abend heute, vermutlich sind einige schon verreist. Allen mtieinander wünsche ich angenehme Sommertage. Ganz herzlichen Dank an Prof. Tumani für sein Engagement einmal mehr im AMSEL-Chat ! Am 4. September sehen wir uns wieder: gleiche Stelle, gleiche Welle. Guten Abend !

Nina: Vor 3 Jahren erhielt ich die gesicherte MS Diagnose, 10 Herde im Kopf und einen in der HWS. Bei Lumbalpunktion wurden oligoklonale Banden positiv getestet. Diagnose wurde in einer Uniklinik gestellt und ist nach McDonald auch gesichert. Aufgrund meiner sehr stark schwankenden Symptome, die eigentlich untypisch für MS sind (an einem Tag ist Lhermitte sehr stark ausgeprägt, am nächsten weg...etc.) erkundigte ich mich bei verschiedenen Ärzten etc. Nun wurde mir nahegelegt eine Differential-Diagnose MS/LNB zu machen.... An wen kann ich mich diesbezüglich wenden und hätte eine Borreliose nicht schon bei der Diagnose ausgeschlossen werden müssen(Unterlagen habe ich alle zu Hause, nur bin ich leider kein Arzt und die Werte sagen mir nicht viel)?? Ich bin total verunsichert und habe Angst in die falsche Richtung zu therapieren..... Vielen Dank schon mal für Ihre Information

Prof. Hayrettin Tumani: Die LNB sollte bei der MS-Erstdiagnostik ausgeschlossen werden können. Vermutlich handelt es sich um eine Seroprävalenz (Durchseuchung ohne klinische Relevanz), wenn Antikörper gegen Borrelien nachweisbar sind. Ich empfehle Ihnen, sich mit Ihren Befunden bei einem Neurologen beraten zu lassen.

Redaktion: AMSEL e.V., 17.07.2012