Arbeitsrecht und Sozialfragen

16.02.05 - Vom Einzelkampf rät Andreas Czech im AMSEL-ExpertenChat zum Thema "Arbeitsrecht und Sozialfragen" ab.

Moderator Patricia Fleischmann: Einen wunderschönen Abend an alle AMSEL-Chatter! Heute begrüßen wir Rechtsanwalt Andreas Czech in unserer Runde - auf Ihre Fragen sind wir gespannt!

Tom: Ich bin 27 Jahre alt und studiere zurzeit - nach dem Abitur (1996) und Ableistung des Zivildiensts - Fahrzeugtechnik an der Universität Stuttgart im 11. Semester. Leider wurde bei mir multiple Sklerose diagnostiziert. Da der Verlauf dieser Krankheit nicht vorhersagbar ist, möchte ich gerne wissen, auf was ich mich bei ungünstigem Verlauf einstellen muss. Ich werde voraussichtlich mein Studium in etwa 2 Semestern abschließen. - Bezüglich meiner Zukunftsperspektiven habe ich deshalb ein paar Fragen: - Wie ist meine Situation, wenn ich mein Studium zwar abschließe, wegen meiner Krankheit aber keinen Arbeitsplatz bekomme bzw. wegen teilweiser bzw. vollständiger Erwerbsunfähigkeit keine Arbeit ausüben kann. Bei den Fällen in den BfA-Broschüren wird von Erwerbsminderungsrente und Zurechnungszeiten gesprochen, aber in den geschilderten Fällen ist - soweit ich es verstanden habe - der Verdienst vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit maßgebend. - Im ungünstigsten Fall wäre das bei mir Null oder allenfalls der Wert meines zurzeit ausgeübten Minijobs mit 12.400 Euro pro Jahr. Wäre das die Basis für die Berechnung der Zurechnungszeit? - Kann ich heute bereits etwas tun um meine Situation rentenrechtlich zu verbessern? (freiwillige Beiträge etc.) - Wie lange muss ich mindestens meinen Beruf ausgeübt haben, damit diese Berufstätigkeit als Basis für die Berechnung der Zurechnungszeit gilt? -Wenn ich mich selbständig machen würde, wie lange muss ich Beiträge in welcher Höhe leisten um Ansprüche um Ansprüche zu erwerben? - Mir wurde geraten, bei meinem Minijob auf die Versicherungsfreiheit zu verzichten und die vollen Pflichtbeiträge zu leisten, ist das korrekt? - Ich bitte um möglichst konkrete und mit Zahlen und Beispielen belegte Aussagen, wohlgemeinte Hinweise, es werde schon nicht so schlimm kommen, helfen mir wenig. Gibt es vielleicht bereits weitere Unterlagen oder man kann mir Adressen /Telefonnummern kompetenter Gesprächspartner nennen?

Andreas Czech: Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung haben: Versicherte, die ganz oder teilweise erwerbsgemindert sind und die in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit, 60 Monate, erfüllt haben.
Die Höhe der Rente berechnet sich aus den erzielten Bruttoentgelten, die der Beitragzahlung zugrunde liegen. Bei einer geringfügigen Beschäftigung fällt die Rente entsprechend gering aus. Es ist richtig, dass es eine Zurechnungszeit gibt. Hier werden, grob gesagt, die erzielten Durchschnittsentgelte bis zum 60 Lebensjahr "zugerechnet". Gleichzeitig wird ein Rentenabschlag von 10,8 Prozent abgezogen. Eine Rentenberechnung selbst wäre hier zu umfangreich.
Die Versicherungspflicht aus der geringfügigen Beschäftigung zählt für die Wartezeit der Erwerbsminderungsrente (EM) mit. (War ein guter Ratschlag)

kermit: guten abend. ich habe seit sept.04 die diagnose. habe antrag nach sgb gestellt und einen feststellungsbescheid über 30 prozent bekommen. ich habe zwar keine gehbehinderung (1.schub betraf die augen) und überlege, ob es sinnvoll wäre die 50 prozent anzustreben. habe aber keine ahnung, ob man schwindel und müdigkeit als behinderung sehen kann. was raten sie ?

Andreas Czech: Es ist immer anzuraten, die 50 Prozent GdB anzustreben, weil man als Schwerbehinderter viele rechtliche Vorteile genießt. Zu nennen sind insoweit: stärkerer Kündigungsschutz (die Integrationsbehörde muss bei jeder Kündigung zustimmen), Zusatzurlaub, höherer Steuerfreibetrag. Ob Ihre Leiden zu einer Aufstockung auf 50 Prozenz GdB führen, kann pauschal leider nicht beantwortet werden, weil es sich immer um Einzelfallentscheidungen des Versorgungsamtes handelt.

Alexia: Guten Abend Herr Czech. Muß ich meinem Arbeitgeber sagen, dass ich MS habe? Hab keine Beschwerden und keine Behinderung. Bin Kinderpflegerin. Vielen Dank

Andreas Czech: Fragen des Arbeitgebers müssen zulässig sein, das heisst der Arbeitgeber muss an der Beantwortung der Frage ein berechtigtes, schutzwürdiges Interesse haben. Im Falle einer Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft hat das Bundesarbeitsgericht lange Zeit ein umfassendes Fragerecht des Arbeitgebers anerkannt. Dies wurde unter anderem mit der Gefahr einer Schadensersatzpflicht nach § 618 III BGB sowie dem Zusatzurlaub von Schwerbehinderten begründet. Aufgrund der Regelung des § 81 II Nr.1 SGB IX sowie Art.5 der neuen Gleichbehandlungsrichtlinie (diese ist demnächst in deutsches Recht umzusetzen) wird nun wohl mit Recht prognostiziert, dass das Bundesarbeitsgericht künftig zumindest dann die Unzulässigkeit einer solchen Frage wird annehmen müssen, wenn sie tätigkeitsneutral ist. Problematisch in Ihrem Fall ist, dass bei einer Kinderpflegerin, die Tätigkeitsneutralität einer solchen Frage schwer zu bejahen sein wird.

kermit: wie soll man sich im bewerbungsgespräch verhalten, wenn man 30 % auf die ms bekommen hat ? ist die frage nach chronischen erkrankungen zu bejahen ? wie die frage nach allgemeinen krankheiten ? normalerweise muss man doch alles sagen, was den konkreten arbeitsplatz angeht, oder ? sollte man die ms beim namen nennen oder umschreiben ?

Andreas Czech: Fragen des Arbeitgebers müssen zulässig sein, das heißt der Arbeitgeber muss an der Beantwortung der Frage ein berechtigtes und schutzwürdiges Interesse haben. Nur dann besteht eine Pflicht zu wahrheitsgemäßer Antwort. Auf zulässige Fragen des Arbeitgebers muss der Arbeitnehmer antworten. Über Krankheiten muss der Arbeitnehmer Auskunft geben, soweit die Geeignetheit des Arbeitnehmers für den Arbeitsplatz davon abhängt. Chronische Erkrankungen sind nur zu nennen, wenn die Arbeitserfüllung des Arbeitnehmers durch sie erheblich beeinträchtigt wird. Allgemeine Krankeiten muss man nicht offenbaren. Es ist in der Tat so, dass man Fragen beantworten muss, die den Arbeitsplatz angehen, allerdings nur solche Fragen, die das Arbeitsverhältnis gefährden und nicht nur unwesentlich berühren. Wenn Sie genau wissen, dass Sie MS haben und Ihre Erkrankung nicht tätigkeitsneutral ist, ist es besser die Krankheit beim Namen zu nennen.

kermit: kann man die persönlichen beeinträchtigungen selbst ggü. dem versorgungsamt schildern, oder braucht man ein ärztliches attest ? die täglichen beeinträchtigungen durch schwindel kann man schlecht mit einer ärztlichen untersuchung belegen.....kann man also alleine kämpfen oder spricht das versorgungsamt ALLES mit den ärzten ab ?

Andreas Czech: Grundsätzlich muß man dem Versorgungsamt ein möglichst ausführliches ärztliches Attest vorlegen. Ggf. frägt des Versorgungsamt beim behandelnden Arzt nach. Alleine zu kämpfen macht keinen Sinn, Gutachten und Atteste von Ärzten sind zwingend erforderlich.

petra: Guten Abend. Bin 28 Jahre und arbeite seit 09/2003. Seit 10/2004 habe ich MS. Zur Zeit werde ich vom Betrieb zum Prüf.Ing ausgebildet.Vor der Prüfung wollen die aber einen Gesundheitscheck machen incl. Bogen mit Fragen. Meine Frage muß ich meinen Arbeitgeber sagen dass ich MS habe.Sollte ich einen Schwerbehindertenausweis beantragen?Ist meine Krankheit ein Grund zur Kündigung? Ich habe Angst meinen Job zu verlieren. Was soll ich nun tun?

Andreas Czech: Chronische Erkrankungen müssen nur dann gegenüber dem Arbeitgeber offen gelegt werden, wenn sie entscheidenden Einfluss auf den Arbeitsplatz haben und für den Arbeitsplatz von ausschlaggebender Bedeutung sind. Sie dürfen folglich nichts verschweigen, was die Erfüllung der Arbeitspflicht unmöglich macht oder wesentlich erschwert. Die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises ist dann anzuraten, wenn Ihr Arbeitsplatz gefährdet zu sein scheint, weil Sie durch den Schwerbehindertenausweis den besonderen Kündigungsschutz haben. Eine Krankheit an sich ist kein Kündigungsgrund. Bei sehr häufigen krankheitsbedingten Fehlzeiten kann ausnahmsweise eine Kündigung gerechtfertigt sein, wobei diese Kündignug dann sehr hohe Hürden nehmen muss.

Rieke: Guten Abend. Muss der Arbeitgeber über das Bestehen der Schwerbehinderteneigenschaft aufgeklärt werden? Die Rheumaliga sagt nein, aber sonst liest man das nirgendwo so klar, und dann gibt es ja auch noch das Thema Treuepflicht etc....

Andreas Czech: Der Arbeitnehmer muss nicht von sich aus Schwangerschaft oder Behinderung offenbaren, darf aber nichts verschweigen, was die Erfüllung der Arbeitspflicht unmöglich macht oder für den Arbeitsplatz von ausschlaggebender Bedeutung ist.

Dahlia: Guten Abend! Ich bin Praktikantin im öster. Integrationsfonds. Ein gebürtiger Iraner ist an MS erkrankt und lebt in einer Gegend, die von seinen Freunden (und somit Bezugspersonen) weit entfernt ist. Wir haben nun vor eine geförderte Wohnung in der Nähe seiner Freunde zu beantragen. Ist es daher wahrheitsgemäß, wenn wir angeben, dass der Patient durch die MS bedingt depressiv ist und suizidgefährdet ist?

Andreas Czech: Die Beantwortung dieser Frage entzieht sich leider meinen gegenwärtigen Kenntnisstand. Bitte wenden Sie sich an die Mitarbeiter der AMSEL. Jürgen Heller ist für sozialrechtliche Fragen zuständig: juergen.helleramsel-dmsgde.

PeterP: Ich habe seit zehn Jahren MS, man sieht es mir aber fast gar nicht an im täglichen Leben. Ich möchte nun in den Beruf zurück und lese in manchen Stellenanzeigen, dass Schwerbehinderte bevorzugt werden. Bin ich schwerbehindert mit der Diagnose MS und mit ein paar Schüben, deren Behinderungen sich glücklicher Weise fast vollständig zurückgebildet haben? Muß ich mich auf die Einschätzung eines Neurologen verlassen oder gibt es auch Richtlinien, die klar definieren, wo Schwerbehinderung vorliegt und wo nicht?

Andreas Czech: Eine Schwerbehinderung ist mit der Diagnose MS nicht zwingend gegeben. Nach Ihren Schilderungen ist vielmehr davon ausgehen, dass das Versorgungsamt keine Schwerbehinderung bejaht. Eine Antragstellung ist dennoch anzuraten, um eventuell die Schwerbehindertenstellung zu erhalten. Die Einschätzung des Versorgungsamtes ist maßgebend für den Grad der Behinderung, wobei die Einschätzung eines Neurologen für die Entscheidung des Versorgungsamtes von Bedeutung sein kann. Über die Existenz von Richtlinien kann Ihnen unter Umständen das Versorgungsamt Auskunft geben.

Moderator Patricia Fleischmann: Liebe Chatter, der AMSEL-ExpertenChat ist für heute beendet. Ich danke für Ihre Beiträge und großer Dank geht natürlich auch an Andreas Czech! Am 1. März lautet unser Thema: "MS und Schwangerschaft". Dr. Rösener wird dann alle Fragen zu diesem Thema beantworten, nicht nur Frauen, sondern ebenso Männer betreffend (Fruchtbarkeit etc.). Bis dahin!

Redaktion: AMSEL e.V., 16.02.2005