Spenden und Helfen

"Was hält Kinder mit einem chronisch kranken Elternteil gesund?"

29.10.04 - Von Martin Nobs, Kinder- und Jugendpsychologe, Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft, Zürich.

Das Leben mit MS ist für Betroffene und Mitbetroffene eine grosse zusätzliche Herausforderung und verlangt gerade von Familien einiges an Flexibilität, Improvisationskunst und manchmal auch Verzicht ab. Zusätzlich zum normalen Familienalltag können MS-spezifische Belastungsfaktoren weitere Hürden sein. Ich denke dabei an die Unsicherheit des MS-Verlaufes, an die Immobilität, an die hohe Ermüdbarkeit, an allfällige kognitive Störungen bei den Betroffenen und an die hohe Beanspruchung des nichtbetroffenen Elternteiles. Dies sind alles Faktoren, welche ein Familiensystem zusätzlich herausfordern können.

Wie bleiben Kinder gesund?
Ich möchte mich aber nun nicht tiefer auf die gefährdende (pathogenetische) Sichtweise einlassen, sondern vielmehr einer gesundheitsorientierten (salutogenetischen) Anschauung/Ansicht Platz lassen. Weg von der Frage "Was gefährdet Kinder mit einem chronisch kranken Elternteil?" hin zur Frage "Was hält Kinder mit einem chronisch kranken Elternteil gesund?".

Obwohl einige Studien von Entwicklungsschwierigkeiten bei Kindern mit einem MS-betroffenen Elternteil berichten (siehe auch andere Beiträge in dieser Serie), entwickeln sich erstaunlicherweise die meisten Kinder bestens. Kinder sind manchmal, in Anbetracht der Situation, wesentlich robuster und gesünder als man auf den ersten Blick erwarten dürfte. Nicht jedes Kind bringt natürlich von seiner körperlichen und psychischen Konstitution die gleichen Voraussetzungen mit.

Tatsache ist, dass stärkere und schwächere Kinder geboren werden. Es bestehen also auch grundsätzlich unterschiedliche Grundvoraussetzungen um mit zusätzlichen MS-bedingten Herausforderungen umzugehen. So ist also durchaus nicht jede Schwierigkeit in der kindlichen Entwicklung auf die MS von Mama oder Papa zurückzuführen. Eine logische Tatsache, die aber im Alltag oft zu wenig beachtet wird. Trotzdem können Eltern natürlich etwas tun um ihre Kinder in einem optimalen Rahmen aufwachsen zu lassen.

Gibt es "Schutzfaktoren"?
Wenn in Studien gefährdende Faktoren dargestellt werden können, sollte es auch möglich sein, Faktoren zu benennen, die eine Fehlentwicklung verhindern können. Hier nun einige Punkte auf die man als Eltern achten kann:

Klare Familienstrukturen
Als Grundvoraussetzung für eine klare Familienstruktur gilt die Einhaltung der Hierarchieebenen. Die Hauptverantwortung für die Familie liegt bei den Eltern. Diese fällen wichtige Entscheide und übernehmen die Verantwortung aller familiären Belangen. Kinder sind mit zu viel Verantwortung überfordert. Kinder sollten zudem weder Partnerersatz noch Gesprächspartner für wichtige Probleme sein.

Aufgaben klar delegieren
Kinder übernehmen gerne kleinere Aufgaben im Haushalt - diese dürfen ihnen auch zugemutet werden. Alles aber in einem Zeitrahmen der Schularbeiten und Freizeit nicht gefährdet. Tabu sind regelmässige pflegerische Arbeiten, besonders wenn es um Körperpflege beim betroffenen Elternteil geht. Hier sollte auf andere Möglichkeiten der Hilfe zurückgegriffen werden.

Freiräume
Kinder brauchen Freiraum. Sie müssen spielen, lachen, toben und scherzen dürfen. Wenn Mama oder Papa lärmempfindlich oder ungeduldig sind, ist es keine Lösung die Kinder dauernd zur Stille zu zwingen. Eher muss man Möglichkeiten schaffen bei denen alle Familienmitglieder auf ihre Kosten kommen (z.B "Lautzeiten" und "Leisezeiten", "Leisezonen" usw.)

Soziale Beziehungen fördern
Schlimm ist es für Kinder, wenn sie sehr isoliert leben müssen - nur weil Mama oder Papa nicht mehr so mobil und motiviert sind um das Haus zu verlassen, müssen Kinder nicht auf ihre sozialen Kontakte verzichten. Kinder sollen Freunde besuchen können, zu den Pfadfindern oder in die Jugendgruppe gehen dürfen. Kinder sollen mit anderen Menschen ganz viel Kontakt haben. Sie werden den Daheimgebliebenen mit Begeisterung von ihren Erlebnissen erzählen. Lassen Sie ihr Kind ziehen!

Einander zuhören
Es ist wichtig, dass über die MS und damit verbundene schwierigen Gefühle gesprochen werden darf. Alle in einer Familie haben das Recht dazu. Hören Sie ihren Kindern zu. Achten sie darauf, was diese ihnen sagen möchten. Schenken sie ihrem Kind ihr "Ohr".
Vor einigen Wochen hat mir eine Jugendliche bei einem Beratungsgespräch folgendes gesagt hat:

Mir ist nicht so wichtig ob Mama körperlich immer fit ist - wichtiger ist mir, dass sie trotz ihrer Müdigkeit versucht, mir zuzuhören und so für mich da ist.
(Petra 14 Jahre)

Die oben genannten Punkte sind sicher nur einige von vielen Faktoren die Kinder in ihrer gesunden Entwicklung fördern. Sie sollen allen Familien die mit MS leben, Mut machen daran festzuhalten, dass sich Kinder und Familien trotz MS ganz toll entwickeln können.

Redaktion: AMSEL e.V., 29.10.2004