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Multiple Sklerose - das einzig Sichere an ihr ist ihre Unzuverlässigkeit

26.07.05 - Göttinger Medizinsoziologen erforschten, wie MS-Kranke ihre Krankheit bewältigen.

An MS zu erkranken, bedeutet für die Betroffenen, mit realen oder aber mit befürchteten Kontrollverlusten über zentrale Körperfunktionen wie Gehen, Greifen, Sehen, Tasten, Sich-Spüren leben zu lernen. Die MS lässt weder eine zuverlässige Prognose über den künftigen Verlauf zu noch kann sie durch eine Kausaltherapie beeinflusst werden. Dies bedeutet für alle MS-Kranken, dass eine ständige Angst vor Verschlechterung die langfristige Lebensplanung bedroht.

Die empirische Studie wurde von Dr. Gerd Ziegeler, Akad. Rat in der Abteilung für Medizinische Soziologie, und Prof. Dr. Hannes Friedrich, Leiter der Abteilung für Medizinische Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen, durchgeführt. Sie zeigt auf, welche körperlichen, seelischen und sozialen Krankheitsfolgen sich im Laufe der Jahre einstellen und wie diese bewältigt werden (können).

Grundmuster der Bewältigung

Das Forscherteam arbeitete verschiedene Grundmuster der Krankheitsbewältigung heraus. Gemein war ihnen, dass alle Kranken nach dem längsten Untersuchungszeitraum von zehn Jahren ein eigenes, für sich selbst sinnvolles Bewältigungsmuster gefunden hatten.

Die Flexiblen

Knapp die Hälfte der 60 Befragten (n=28) kann unter die Gruppe der Flexiblen subsumiert werden. Pauschal gesagt ist diese Gruppe (heterogen im Alter und in der Schwere der Krankheit) in der Lage, ein Leben mit der Krankheit zu führen. Aktiv testen die Flexiblen ihre Möglichkeiten. Als Ressourcen im Rücken haben sie ihren Beruf sowie ein stabiles soziales Netzwerk. Die Krankheit wird als Herausforderung angesehen, Verluste werden mit einkalkuliert, aber sich selbst geben sie nicht auf.

Die Unbeugsamen

Zehn der Befragten sind dieser Kategorie zuzuordnen (überwiegend männlich; heterogen in der Schwere der Krankheit). Der Beruf, Unabhängigkeit und Erfolg spielten in dieser Gruppe vor der Diagnose eine absolut herausragende Rolle. Die Krankheit geriet daher zu einer massiven Bedrohung. Jeder dieser zehn Kranken hielt geradezu starr am bisherigen Leben fest. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der MS fand nicht statt. Unbeugsame sperren sich mit einem enormen Energieaufwand gegen die Krankheit, in dieser Kraft liegt ihre Stärke. Dies geht aber nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Bei Symptomverstärkung kann es zu einem Totaleinbruch kommen, dann mit erheblichen psychosozialen Störungen.

Die Legitimierten

Diese Gruppe (n=13; Frauen etwas überrepräsentiert; v.a. stärkere Behinderungen) ist gekennzeichnet durch eine, vor der Diagnose passiv anmutende Lebenseinstellung- und führung ohne eine berufliche Orientierung. Gemessen an diesem Lebensstil stellt die Krankheit eine neue sinngebende Aufgabe, ja Chance dar: Die Krankheit wird zum bestimmenden Lebensmittelpunkt. In der Rolle des Kranken gewinnen diese Personen Statur.

Die Ratlosen

Diese Gruppe umfasst neun Personen (überwiegend weiblich; Dominanz mittlerer Behinderungen, keine jüngeren Jahrgänge). Alle Personen führten vor der Diagnose ein voll ausgelastetes Leben und waren mit dem Erreichten in Beruf und Familie zufrieden. In der Eigenart, mit aller Kraft das Bestehende zu verteidigen, bleiben sie dem Geschehen allerdings ausgeliefert. Die Krankheit wurde nicht in den Alltag integriert, sondern der Alltag um sie herum gebaut. Für die Ratlosen wird die MS zu einer zerstörenden, allgegenwärtigen Gefahr. Da die einzige Maxime das Festklammern am bisher Erreichten ist, bleiben Alternativen oder Modifikationen des Alltags ausgeschlossen, da dies Abwertung bedeuten würde. Wenn die letzte Sicherheit - die Partnerschaft- wegbricht, droht völlige Ausweglosigkeit und Zerstörung.

Fazit

Nicht nur für Betroffene, sondern auch für Ärzte, Psychotherapeuten und Psychologen ist die Studie eine interessante Lektüre, die vielleicht dazu beitragen kann, das Bewältigen einer derart unzuverlässigen Krankheit differenzierter zu betrachten. Wissenschaftlich fundiert ist sie auch für den Laien verständlich geschrieben und mit vielen Fallbeispielen illustriert.

Ziegeler, Gerd/Friedrich, Hannes (Hrsg.): Multiple Sklerose - das einzig Sichere an ihr ist ihre Unzuverlässigkeit! Eine Langzeitstudie über Formen der psychosozialen Bewältigung einer chronischen Krankheit, (=Psychosoziale Aspekte in der Medizin, hrsg. von Jordan, Jochen/ Deppe, Hans-Ulrich), Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt/M. 2002, 251S., ISBN 3-88864-349-X.

Redaktion: AMSEL e.V., 28.07.2005