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Zum Glück brauchen wir das Gehirn

Glücklich oder zufrieden zu sein, ist nicht einfach Glückssache. Wie man den Weg zum Glück findet, beschreibt Prof. Jürg Kesselring, Chefarzt Neurologie, Rehabilitationszentrum Valens, Schweiz, in der zweiten Together-Ausgabe 2011.

Ohne Aktivität gibt es kein Glück, wir müssen etwas tun und dazu brauchen wir das Gehirn. Glück lässt sich auch nicht einfach konsumieren, es wird nicht (nur) von außen bestimmt.

 


Wer es versteht, verschiedene Gemütszustände im Gleichgewicht zu halten und das richtige Maß zwischen Über- und Unterforderung zu finden, fühlt Glück. Dem Gehirn kommt dabei eine wichtige Rolle zu, und zwar nicht nur als Produzent von Botenstoffen, sondern als Ort lebenslangen Lernens.

 

Als Beispiel hierfür sollen zwei Persönlichkeiten dienen, die etwa zur selben Zeit gelebt haben. Zunächst Sissi, die Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn. Wahrscheinlich die reichste Frau, die je gelebt hat und sicher eine der schönsten Frauen ihrer Zeit. Ihre selbst verfassten Gedichte handeln indes fast nur von ihrem Unglück.

"Ich bin erwacht in einem Kerker, und Fesseln sind an meiner Hand. Und meine Sehnsucht immer stärker. Und Freiheit! Du mir abgewandt!" oder "Seufzend von dem müden Haupte nehm’ die Krone ich herab, wie viel gute Stunden raubte heut der Ceremonienstab!"

Zur gleichen Zeit reiste der englische Missionar Allen Gardiner an die Spitze von Südamerika. Er und seine Gefährten wollten in unwirtlichen Gegenden das Christentum verkünden. Unmittelbar nach Verlassen des Schiffes, das sie dort hingebracht und nach sechs Monaten wieder abholen sollte, realisierten die Missionare, dass sie das Schießpulver auf dem Schiff vergessen hatten. Zu den Einheimischen, die sie missionieren wollten, fanden sie keinen Kontakt. So versuchten sie einfach nur zu überleben. Ohne Schießpulver konnten sie sich kaum ernähren. Dennoch findet man in ihren Tagebüchern nur Ausdruck ihres Glücks: "Arm und schwach wie wir sind, unser Schiff ist ein Bethel für unsere Seelen und wir spüren, dass der Herr bei uns ist, ob im Schlaf oder wach... ich bin über die Möglichkeit mich auszudrücken, einfach glücklich."

Am Ende hatten sie nichts mehr, verhungerten und waren trotzdem immer glücklich gewesen! Der letzte Eintrag ins Tagebuch vom 6. September 1851 lautet: "Durch die Gnade war diese gesegnete Gruppe imstande, Lob und Preis für die Ewigkeit zu singen. Ich bin weder hungrig, noch durstig, obwohl ich fünf Tage nichts zu mir genommen habe. Wundervolle Gnade und Liebe für mich, einen Sünder..."

Zwei Persönlichkeiten, zwei Grundhaltungen: Sissi, die nach unseren Vorstellungen hätte glücklich sein können, und Allen Gardiner, der eigentlich hätte unglücklich sein sollen. Sie beschreiben ihren Zustand genau umgekehrt, und es wäre anmaßend von uns, zu behaupten, ihre Aussagen stimmten nicht mit der Wahrheit überein.

Belohnung und Strafe

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sich solche Emotionen im Gehirn abspielen (Spence 2009, Goldberg 2009) und dass bestimmte Neurotransmittoren bei unterschiedlichen emotionalen Zuständen aktiv sind.

 

 

Abb.1: Waage des Glücks - Gleichgewicht zwischen Emotionen (Strafe vermeiden) und Motivation (Belohnung)

Meine These lautet nun, dass ein Glückszustand einem Gleichgewichtszustand solcher Neurotransmitter entsprechen muss, weil wir uns immer so verhalten, dass wir entweder belohnt werden oder Strafe vermeiden (Abb. 1). Wenn die Waage kippt, werden wir sicher unglücklich. Denn wenn wir nur noch darauf aus sind, Belohnung zu suchen, führt dies zu Suchtverhalten; und es ist ganz klar: "Il n’y a pas de drogués heureux" – Sucht führt nicht zum Glück.

Versucht man andererseits, ausschließlich Strafe zu vermeiden, weil man sich kein Glück gönnen darf (aus irgendwelchen Gründen), dann zieht man sich von anderen Leuten zurück, weil potenziell ja jeder ein Bestrafer ist. Dies ist ein Grund für die Sozialphobie. Bei Platon findet sich diese philosophische Vorstellung des Ausgleichs zwischen Belohnung und Vermeiden von Strafe im schönen Mythos vom Wagenlenker (der Einsicht) mit dem Zweigespann, von denen das edlere Ross (die Willenskraft) das zügellose (die Begierde) bändigen hilft. Der Wagenlenker, in Freud’scher Terminologie das «Ich», muss diese Rosse der Emotionen im Gleichgewicht halten. Dieser Vorgang liegt in der eigenen Verantwortung und kann von niemandem übernommen werden.

Angst und Langeweile

Zu diesem Gleichgewicht, das zur Freude führt und damit auch für das Glücksempfinden wichtig ist, gehört, dass sowohl Über- als auch Unterforderung vermieden werden.

 

 

Abb.2: Der „Flow Kanal“ (Mihaly Csikszentmihalyi) wird erreicht, wenn Anforderungen und Fähigkeiten im Einklang sind

Der große Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat ein empfehlenswertes Buch über den Flow (das Gefühl des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit) geschrieben. Er verdeutlicht den Ausgleich zwischen Überforderung, auf die wir mit Angst reagieren und Unterforderung, aus der Langeweile resultiert. Zwischen den beiden Polen gibt es einen Weg, den wir erlernen müssen, indem wir eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten erkennen und mit den Anforderungen in Einklang und Übereinstimmung bringen (Abb. 2).

Eine Phänomenologie der Freude könnte folgende Punkte beinhalten:

  1. Sich einer Aufgabe gewachsen fühlen;
  2. Fähigkeit, sich auf das zu konzentrieren, was wir tun;
  3. Deutliche Ziele für angefangene Aufgabe;
  4. Unmittelbare Rückmeldung;
  5. Handeln mit tiefer, aber müheloser Hingabe, welche Sorgen und Frustrationen des Alltagslebens aus dem Bewusstsein verdrängt;
  6. Erfreuliche Erfahrungen vermitteln das Gefühl, Tätigkeiten kontrollieren zu können;
  7. Sorgen um das Selbst verschwinden, aber Selbstwertgefühl taucht nach Flow-Erfahrung gestärkt wieder auf;
  8. Gefühl für Zeitabläufe ist verändert.

Es gibt verschiedene Wege, in einen solchen Flow-Zustand zu gelangen, in welchem es uns gut geht. Wichtig ist es, dass wir diese Balance selber herstellen und nicht warten, dass sie hergestellt wird. Dazu müssen wir aktiv sein, unser Gehirn brauchen. Die wichtigsten Hirnfunktionen sind: Wahrnehmung, Interpretation, Gestaltung der Welt und Lernen. Es gibt zunehmend bessere Studien, die zeigen, dass es darauf ankommt, dass die mentalen und psychischen Fähigkeiten ebenso trainiert werden müssen wie die Kräfte und die Ausdauer des Körpers (Doidge 2007).

Gleichgewicht herstellen

Das Gehirn ist nicht nur eine Telefonzentrale, wie wir es lange gelernt haben, sondern auch eine Drüse. Ein Organ, das viele Transmitter produziert mit unterschiedlichen, zum Teil sogar gegenteiligen Wirkungen. Diese Polarität ist gut beschrieben im autonomen Nervensystem mit dem mehr ergotropen adrenalingesteuerten Sympathikus im Vergleich zum trophotropendophylaktischen, mehr der Erholung dienenden, Parasympathikus. Solche Balanceverhältnisse lassen sich auch im zentralen Nervensystem verstehen lernen, vor allem in den Netzwerken, welche die Prä-frontalteile mit einbeziehen.

 

 

Autor: Prof. Dr. med.
Jürg Kesselring,
Chefarzt Nerologie,
Rehabilitationszentrum
Valens, Schweiz

Die philosophische Grundfrage bleibt, ob man der Überzeugung ist, dass dieser Organismus gesteuert werden kann. Dass sich diese Balance auch beeinflussen lässt oder ob man nur Opfer vorgegebener Strukturen und der Neurotransmitter ist.

Für mich ist klar, und zwar hauptsächlich auch aus der Erfahrung mit den Patienten, dass man immer lernen kann, aber man muss die Bereitschaft haben, lernen zu wollen und muss Freude daran haben. Schließlich braucht es Lehrer, die einem zeigen, wie man lernen kann und wie man motiviert werden kann, aus dem Gelernten über positives Feedback weiter zu machen. Es ist für mich ein Inbegriff des Glücks, wenn es einem dank dieser Balance gelingt, sozusagen bei sich selber zu sein.

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Redaktion: AMSEL e.V., 17.06.2011