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Was bringt die Gesundheitsreform MS-Kranken?

21.12.06 - Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der AOK Baden-Württemberg Dr. Rolf Hoberg

Der Entwurf der geplanten Gesundheitsreform liegt auf dem Tisch und sorgt für Aufregung. Together sprach mit Dr. Rolf Hoberg, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg darüber, was die Gesundheitsreform für die Versicherten allgemein, für chronisch Erkrankte und insbesondere für MS-Kranke bringt.

Together: Herr Hoberg, der Entwurf der Gesundheitsreform umfasst mehr als 500 Seiten. Ziel soll u. a. Abbau der Bürokratie, Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit und die Stärkung des Wettbewerbs sein. Werden diese Ziele mit der Reform erreicht, bzw. können sie erreicht werden?

R. Hoberg: Die von der Koalition formulierten Ziele werden nicht erreicht. Das "Wettbewerbsstärkungsgesetz" hat seinen Titel zu unrecht. Eine Verbesserung der Qualität ist nicht zu erwarten, denn zukünftig werden Verträge gemeinsam und einheitlich geschlossen. Da bleibt wenig Spielraum zur Ausgestaltung innovativer und qualitativ hochwertiger Versorgungsformen. Unter dem Label "gemeinsam und einheitlich" kann nicht ernsthaft ein Mehr an Wettbewerb beabsichtigt gewesen sein.

Together: Sind Beitragserhöhungen zu erwarten?

R. Hoberg: Mit Beitragserhöhungen muss – auch nach Aussagen der Bundesregierung selbst – gerechnet werden, da es die Bundesregierung versäumt hat, auf den wachsenden Ausgabenanstieg im Gesundheitssystem angemessen zu reagieren. Mehr noch, mit ihrer Politik verschärft sich die finanzielle Situation. Allein die Belastungen durch die Mehrwertsteuererhöhung und die Kürzung der Tabaksteuerzuschüsse führt zu einem Beitragssatzanstieg in der gesetzlichen Krankenversicherung in der Größenordnung von mindestens 0,5 Beitragssatzpunkten. Insgesamt dürfte der Beitragssatzanstieg deutlich höher ausfallen.

Together: Wie bewerten Sie die Einführung des Gesundheitsfonds? Was sind die Vorteile, wo liegen die Nachteile?

R. Hoberg: Den Gesundheitsfonds halte ich nach wie vor für völlig überflüssig. Vorteile kann ich daher keine erkennen. Die im Koalitionsvertrag formulierten Ziele "niedrigere Lohnnebenkosten" und "weniger Bürokratie" werden durch den Gesundheitsfonds nicht im Geringsten erreicht. Die Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen werden mit der Schaffung eines Gesundheitsfonds nicht gelöst; er gibt keine Antwort auf die Frage nach der Finanzierung des zu erwartenden Ausgabenanstiegs im Zuge des demographischen Wandels und des medizinisch- technischen Fortschritts.

Together: Krankenkassen, die mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommen, können einen Zusatzbeitrag, die sog. "Kleine Kopfpauschale" bei ihren Versicherten erheben. Wie bewerten Sie diese Regelung?

R. Hoberg: Diese Regelung bedeutet nichts anderes als eine einseitige Belastung der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung. Jeder Ausgabenanstieg im Gesundheitswesen wird über diese Prämie als einziges Ventil zu finanzieren sein.

Together: Welche Auswirkungen hat die Gesundheitsreform für chronisch Kranke?

R. Hoberg: Chronisch Kranke müssen mit zusätzlichen Belastungen rechnen. Die Überforderungsgrenze bei Zuzahlungen für chronisch Kranke wird von 1% auf 2% des Haushaltseinkommens gesetzt, sofern diese nicht an den relevanten Vorsorgeuntersuchungen bzw. strukturierten Behandlungsprogrammen teilnehmen bzw. teilgenommen haben. Für MS-Kranke bedeutet das konkret: Wenn die Regelung so kommt, müssen sie über Jahre die konsequente Inanspruchnahme der Vorsorgeleistungen (insbesondere zweijährige Gesundheitsuntersuchung ab dem 35. Lebensjahr) nachweisen, um weiterhin lediglich die reduzierte Zuzahlungsgrenze von 1% des Haushaltseinkommens zu bekommen.

Together: Welche Leistungen werden nach der Gesundheitsreform 2006 gekürzt werden?

R. Hoberg: Die AOK Baden-Württemberg wird alles dafür tun, keine Leistungen kürzen zu müssen. Auch in Zukunft wollen wir unseren Mitgliedern eine Versorgung auf höchstem Niveau garantieren.

Together: Welche Auswirkungen hat die Reform für Arbeitslosengeld II-Bezieher und sozial Schwache?

R. Hoberg: Sozial Schwache sind von der Zusatzprämie besonders betroffen, da diese ausschließlich von den Mitgliedern, d. h. ohne Beteiligung der Arbeitgeber, zu finanzieren ist.

Together: Wird die "Öffnung" der PKV es auch chronisch Kranken erlauben, sich zu bezahlbaren Tarifen privat zu versichern? Und wie bewerten Sie das Rückkehrrecht in GKV und PKV?

R. Hoberg: Private Versicherer müssen künftig einen Basistarif ohne Risikoprüfung anbieten. D. h. auch chronisch Kranke können eine private Krankenversicherung wählen. Die Versorgungsstrukturen für chronisch Kranke sind jedoch bei den privaten Krankenkassen längst nicht in dem Maße ausgeprägt, wie bei großen Versorgerkassen. Spezielle, an den Bedürfnissen der Versicherten orientierte Versorgungsmodule wird man dort kaum finden.

Together: Was bringt das Gesetz, besonders die Kosten-Nutzen-Bewertung in Hinblick auf innovative, hochpreisige Medikamente?

R. Hoberg: Die Kosten-Nutzen-Bewertung wird von uns begrüßt. Es kann nur als fair und im Sinne der Beitragszahler betrachtet werden, wirklich innovative Medikamente und den damit verbundenen teuren Forschungsprozess zu finanzieren. Gelder, die für Scheininnovationen ausgegeben werden sind verlorene Gelder, die an anderer Stelle sinnvoller hätten eingesetzt werden können.

Together: Wird diese Kosten-Nutzen-Bewertung nachträglich auch für bereitszugelassene Medikamente, wie z.B. Interferone, gelten?

R. Hoberg: Das ist so vorgesehen und auch durchaus sinnvoll. Für Arzneimittel, für die – wie zum Beispiel für die Interferone – kein Festbetrag gilt, sollen innerhalb der GKV Erstattungshöchstbeträge festgesetzt werden. Dies erfolgt auf Basis einer sorgfältigen Kosten-Nutzen-Bewertung und unter angemessener Berücksichtigung der Entwicklungskosten. Alternativ kann der Höchstbetrag auch im Einvernehmen mit dem pharmazeutischen Unternehmen festgelegt werden. Solche Maßnahmen sind erforderlich, um die Versorgung mit innovativen Therapien auch weiterhin sicher zu stellen.

Together: Was sind zusammengefasst aus Ihrer Sicht die wichtigsten Änderungen für chronisch Kranke?

R. Hoberg: Die Idee, die hinter dem "GKVWettbewerbsstärkungsgesetz" steht, ist die Erzielung von Wirtschaftlichkeitsreserven bei den Krankenkassen durch ein Mehr an Wettbewerb. Genau das Gegenteil wird jedoch erreicht werden: der Weg in eine Einheitskasse wird geebnet. Auf die Versorgung vor allen Dingen von chronisch Kranken wird dies insofern negative Auswirkungen nach sich ziehen, da den Kassen versorgungsrelevante Wettbewerbsfreiräume genommen werden. Individuelle, auf den kranken Menschen abgestimmte, Versorgungsstrukturen sind mit den zukünftigen finanziellen Mitteln und den vertraglichen Gestaltungsspielräumen schwer möglich. Die Qualität in der Versorgung droht sich absehbar zu verschlechtern.

Redaktion: AMSEL e.V., 21.12.2006