Spenden und Helfen

Aus dem Alltag des AMSEL-Psychologen

2005 feierte er Jubiläum. Auf stolze 20 Jahre bei der AMSEL kann er zurückblicken: Michael Berthold.

 

Schon vor 1985 hatte der Diplom-Psychologe im AMSEL-Landesverband mit MS-Erkrankten gearbeitet, damals im MS-Pflegeheim in Bietigheim-Bissingen. Drei Gruppen betreute er: Bewohner und deren Angehörige sowie das Personal. Wenn die Patienten Trennungsprobleme nach dem Auszug von zu Hause hatten, oder wenn sich Schwierigkeiten mit den sozialen Kontakten im Heim ergaben, wandten sie sich an Michael Berthold. Außerdem beriet er das Pflegepersonal, für das MS damals ein neues Arbeitsfeld war.

Die Arbeit bei der AMSEL

Heute gehört zu seinem Arbeitsgebiet, Seminare und Fachvorträge zu psychologischen Themen rund um die MS zu halten. Bei den Veranstaltungen, die er landesweit auch in Kontaktgruppen und Jungen Initiativen durchführt, geht es um psychologische Therapien, kognitive Probleme, Partnerschaft und Familie, die Diagnose MS sowie Hilfe bei Depressionen und Ängsten. Ziel ist es, Wissen und Information über psychische Aspekte der MS zu vergrößern und damit vorbeugend Hilfestellung zu geben.

Wenn die Selbsthilfe nicht mehr ausreicht

Der zweite große Teil seines Aufgabenfeldes ist die psychologische Beratung. Täglich erreichen ihn Anfragen – schriftlich, telefonisch oder persönlich. Auffallend ist, dass sich mehr Frauen als Männer an den AMSEL-Psychologen wenden. „Frauen fällt es einfacher, Probleme zu thematisieren und über ihre Gefühle zu sprechen. Auch erkranken doppelt so viele Frauen wie Männer an MS.“ Die Mehrheit aller Ratsuchenden lässt sich per E-mail oder telefonisch unterstützen– die Hemmschwelle ist dabei niedriger. Das direkte, persönliche Gespräch im Service-Center der AMSEL zu suchen, kostet meist Überwindung, kann aber als etwas Alltägliches betrachtet werden – schließlich ist „Coaching“ heute in vielen Bereichen üblich und bei einer chronischen Erkrankung ein mehr als verständliches Bedürfnis. Nach der Diagnose MS kämpfen viele mit Ängsten, Verunsicherung, Selbstwertverlusten und sogar schweren Lebenskrisen. Wenn dann noch eine kritische Situation jenseits der Diagnose hinzukommt (Partnerschaftsprobleme, Arbeitslosigkeit,…) ist Michael Berthold gefragt. Zwar hat jeder Mensch die „Fähigkeit zur Selbsthilfe“, aber wenn zum Beispiel das soziale Umfeld nicht stabil ist oder Probleme schon vorher da waren, kann die Diagnose MS die bestehenden Probleme potenzieren und die Selbsthilfefähigkeit an ihre Grenzen kommen. Einfach ausgedrückt: Wenn alles zuviel wird und einer nicht mehr weiter weiß, sucht er sich Hilfe beim erfahrenen Berater. Zeitnah innerhalb von ein bis zwei Wochen, unbürokratisch und vor allem vertraulich, kann der Psychologe persönliche Gespräche anbieten. Er richtet seinen Blick nicht nur auf die Krankheitssymptomatik, sondern betrachtet den Ratsuchenden in seiner Gesamtheit und geht „Ressourcen orientiert“ an die Thematik heran: Was hat bisher geholfen, was war eher eine Sackgasse, wo liegen verborgene Stärken? In wenigen Kontakten kann meist Entlastung, oft auch eine erste Lösung, ein Weg, gefunden werden. Dennoch sind diese Gespräche nicht als „Psychotherapie light“ zu verstehen, Michael Berthold berät und bietet Überbrückungshilfe, bis Psychotherapieplätze frei geworden sind. Eine Therapie ist meist dann nötig, wenn die enormen Veränderungen durch eine chronische Krankheit nicht akzeptiert werden können: Rollen, z. B. innerhalb einer Familie, ändern sich und der ehemalige Familienernährer muss jetzt zum Hausmann und Erzieher werden. Die Ehefrau ist nicht mehr nur Ehefrau, sondern auch Pflegerin und Ernährerin. Die Mutter muss akzeptieren, dass sie an vorher nicht vorhandene Grenzen stößt und Hilfe annehmen muss – auch von Nicht-Familienmitgliedern. Der fußballbegeisterte Vater muss seinen Kindern erklären, warum er jetzt nicht mehr mit auf dem Bolzplatz toben kann. „Bin ich denn noch ein vollwertiger Vater?“ fragt manch einer von Selbstzweifeln geplagt. Dann versucht Michael Berthold Stärken und Fähigkeiten ins Spiel zu bringen und im Gespräch zu ergründen, ob ein „vollwertiger Vater“ derjenige ist, der samstags mit seinen Kindern kickt oder derjenige, der ihnen Liebe, Zuneigung und stets ein offenes Ohr schenkt. Grundlegend für einen unbefangenen Umgang der Kinder mit der Erkrankung eines Elternteils ist die Krankheitsakzeptanz durch die Betroffenen selbst.

Beratung im Wandel der Zeit

Verständlicherweise hat sich in den zwei Jahrzehnten ein Großteil der Gesprächsinhalte kaum verändert. Gewachsen ist aber die Selbstverständlichkeit, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Was sich außerdem gewandelt hat, ist der gesamtgesellschaftliche Bezug: Die verschärfte Arbeitsmarktsituation hat Konsequenzen auf die psychische Verfassung. Mobilität auf dem Arbeitsmarkt ist zwar gefragt, aber nicht gut für die sozialen Netzwerke. Netzwerke sind aber unerlässlich – für Menschen mit einer chronischen Erkrankung „lebenswichtig“. Eine Form des Netzwerkes ist die Selbsthilfegruppe. Hier erfahren MS-Betroffene Verständnis und soziale Unterstützung in der Gruppe der Miterkrankten. Diese Entwicklung spiegelt sich natürlich auch in den Gesprächen mit den Betroffenen wider.

Der Weg ist das Ziel

Das Ziel der psychologischen Beratung sollte sein, Wege aufzuzeigen und zu finden, mit MS zu leben. Jeder, so betont Michael Berthold, habe dabei individuelle Bedürfnisse, kein Weg sei gleich. Er selbst sieht sich als den „unterstützenden Begleiter“ auf der Suche nach diesem Weg. Der Weg ist schließlich das Ziel.

Redaktion: AMSEL e.V., 24.02.2006