Spenden und Helfen

Alltagsbewältigung bei Multipler Sklerose 2016

Zuhören und vor allem ausprobieren war am Wochenende angesagt: Rund 100 Teilnehmer lockte das Symposium über symptomatische Therapien in die Vorträge und Workshops an den Quellenhof in Bad Wildbad. - Mit Fotostrecke.

Grau ist alle Theorie, heißt es ja so schön. Umso bunter geht es dann in der Praxis zu, wie sich beim Symposium zur Alltagsbewältigung bei Multipler Sklerose am vergangenen Samstag im Neurologischen Rehazentrum Quellenhof gezeigt hat. Denn in Bad Wildbad war mitmachen und mitdiskutieren angesagt und das haben Team wie Teilnehmer sehr genossen.

Den eigenen Atem spüren und messen

Tief einatmen und dann lange und kräftig pusten - so bestimmt man die Atemkapazität. Physiotherapeutin Anne Eitel hat das Messgerät dabei, und so können alle Teilnehmer des Workshops "Atemtherapie bei MS" mit ein Mal Pusten erfahren, wieviel Luft in ihre Lunge passt. Vorher gab's eine kurze Einführung, wie und wohin wir eigentlich atmen. Auch gleich mit Selbsttests erspüren konnten die Workshopper, dass sich Rippen, Brust und Bauch weit weniger heben, wenn man lümmelt anstatt aufrecht zu sitzen.

Fotostrecke

Symptomatische Therapien waren zentrales Thema in vier Vorträgen und fünf Workshops.

Menschen mit Multipler Sklerose haben im Vergleich zu Gesunden öfter eine eingeschränkte Atemkapazität. Das ist bekannt. Doch ein Irrtum wäre es, das nun alleine durch gezieltes Ein- und Ausatmen ändern zu wollen. Oder anzunehmen, dass jeder Rollstuhlfahrer automatisch auch Atemprobleme habe. Rumpf und Atmung hängen hingegen meist zusammen.

Das hat Eitel mit Kollegen selbst in einer Studie nachgewiesen. Eine Teilnehmerin bestätigt dieses Ergebnis: Beate Kereit kann kaum 20 Meter zu Fuß gehen, hat aber eine für ihre Altersgruppe und Körpergröße normale Atemkapazität. Jeden Morgen macht sie 10 Minuten Sitzjogging. Und bestätigt damit gleich eine weitere Theorie: Wenn man den Rumpf regelmäßig lockert, stärkt und dehnt, kann man meist auch besser atmen.

Nachschlucken nicht vergessen

Besonders fiese Zungenbrecher hatte Gerda Thara auf Lager. Die Logopädin ließ ihre Teilnehmer Sätze dieser Art aussprechen: "Max macht Wachsmaskenwachs, Wachsmaskenwachs macht Max. Wenn du Wachsmasken magst, Max macht Wachsmasken, Max macht Wachsmaskenwachs." - Puh ! kann man da schon ohne Sprechstörungssymptomatik stöhnen. Das Üben wäre schnell frustrierend, doch Gerda Thara hat den entscheidenden Tipp parat: Einfach das Sprechtempo drosseln. Dann klappt's auch mit dem Wachs-masken-wachs.

Neben Sprechstörungen geht es in ihrem Workshop auch um Schluckstörungen. Das hört sich weniger dramatisch an als es leider werden kann, denn eingeatmete Speisereste können eine Entzündung in der Lunge verursachen. Ein paar gute Regeln sollte man darum beachten, um das Schlucken zu erleichtern. Ganz wichtig ist, immer aufrecht zu essen; auch nach dem Essen sollte man eine Weile aufrecht sitzen bleiben und die Zeit nutzen, um "nachzuschlucken", damit auch wirklich alle Speisen in den Magen wandern.

Kanu fahr'n ?

Ruckzuck verging die Zeit im einstündigen Workshop mit Diplompsychologe Dr. Tao Yu. Der Quellenhof-Arzt zeigte, wie man diverse neuropsychologische Funktionen testet und mit den Durchschnittergebnissen Gesunder vergleicht. Besonders spannend hier: Der Test am Fahrsimulator. Das Neurologische Rehabilitationszentrum Quellenhof verfügt über die gleichen Apparate und Programme, wie sie bei der offiziellen MPU genutzt werden (landläufig abschätzig auch "Idiotentest" genannt).

Große Aufregung unter den Teilnehmern in dem Raum voller Rechner und Testkonsolen. Hier soll man unter Zeitdruck eine Linie in einem Wirrwarr aus Linien erkennen. Man soll mit beiden Händen und Füßen Knöpfe bzw. Pedale drücken, wenn bestimmte Farben erscheinen. Oder nur einen Knopf drücken, wenn entweder zwei gleich hohe Töne hintereinander erschallen oder ein Haufen Kreuze zusammen ein Quadrat bildet.

Ganz schön verwirrend. Nicht alle Ergebnisse sind auf Anhieb rosig. Doch Heike Meißner, die später einen Vortrag zum Thema hielt, kann beruhigen: Der Gesetzgeber hat hier eine hohe Toleranz eingeräumt. Man besteht den Test auch dann noch, wenn 86% der gesunden Kontrollgruppe besser sind.

Gerätetraining und Tipps im Sozialrecht

Physiotherapeut Uwe Baum leitete nicht nur umfassend Übungen an Geräten in der Medizinischen Trainingstherapie an, sondern gab auch Tipps, wie diese Übungen mit einfachen Mitteln zu Haus umgesetzt werden können. Friedhilde ließ sich eine Beinübung an den Seilzügen zeigen. "Eine ganz tolle Übung. Da werde ich meinen Physiotherapeuten zuhause darauf ansprechen, ob wir das nicht in mein Trainingsprogramm aufnehmen wollen."

Individuelle Fragen standen im Fokus des Workshops zum Sozialrecht. Hier konnte jeder seine ganz persönlichen Anliegen klären. Fachliche Antwort gab es von den Mitarbeitern der AMSEL, Regina Huber und Jürgen Heller. Ob Schwerbehindertenausweis, Erwerbsminderungsrente, Furcht vor Kündigung, pflegerische Fragen oder Hilfsmittel, es wurde lebhaft diskutiert und ausführlich auf alle Fragen eingegangen. Und die anderen Teilnehmer ergänzten noch mit ihren eigenen Tipps. - Ein reger Austausch. Aus den insgesamt 5 verschiedenen Workshops konnte jeder Teilnehmer 2 auswählen.

Vorträge mit Alltagsrelevanz

Um die "Interdisziplinäre Behandlung der MS", "Möglichkeiten der Rehabilitation", "Sport und Bewegung auch bei fortgeschrittener Erkrankung" und die "Kraftfahreignung bei MS" ging es in 4 Vorträgen., von denen jeder vorab 2 wählen durfte. Auch hier war viel Raum für Fragen aus dem Publikum. Neben fachlichen Informationen legten die Referenten - Chefarzt Prof. Dr. med. Peter Flachenecker, Klaus Gusowski, Ltd. Physiotherapeut und Heike Meißner, Ltd. Neuropsychologin und psychologische Psychotherapeutin, alle Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellenhof - größten Wert darauf zu erklären, warum bestimmte Symptome aus Behandlersicht von immenser Bedeutung sind und die Alltagsrelevanz zwischen Symptomen und ihrer Behandlung herzustellen.

Viele Betroffene scheuten beispielsweise die Diagnostik von Blasenproblemen. Dabei kann z.B. dauerhafter Restharn nicht allein zu lebensbedrohlichen Harnwegsinfekten führen, sondern auch zu schweren organischen Schäden von Blase und Niere, so der Chefarzt des Quellenhofs. Bewegung trägt dazu bei, die eigene Leistungsfähigkeit zu erhalten, sagte Klaus Gusowski. Er erklärte die Auswirkungen körperlicher Aktivität (z.B. dass die Bauchmuskulatur für die Darmtätigkeit entscheidend ist) und worauf Betroffene z.B. bei Auswahl und Ausführung von sportlicher Betätigung achten sollten.

Verantwortung im Straßenverkehr

Heike Meißner wies eingangs gleich darauf hin, dass die Fahrtüchtigkeit bei allen Menschen mit dem Alter abnimmt. Viele Behinderungen kann man mit Umbauten oder Zusatzgeräten kompensieren: Ein Handgashebel ist hier ein Beispiel. Generell hält der Gesetzgeber den Fahrer in der Verantwortung - was wiederum für Gesunde wie MS-Betroffene Autofahrer gilt. Wer zu müde ist für den Verkehr, muss sein Auto stehen lassen. Ebenso wer getrunken hat oder wessen Aufmerksamkeit durch Medikamente eingeschränkt ist.

Ein wichtiges Thema in der Fragerunde war hier der Eintrag von Umbauten in den Führerschein. Ein sehr spezielles Thema, denn jeder TÜV handelt anders und auch unter den Landratsämtern scheinen unterschiedliche Konsequenzen gezogen zu werden, von 3-monatig zu erbringendem Gutachten bis hin zu einmaliger Feststellung. Das ist mitunter aufwendig und kann auch teuer werden. Eine Möglichkeit für MS-Betroffene, sich unverbindlich testen zu lassen, bieten Rehabilitationseinrichtungen, denn für die Ärzte herrscht Schweigepflicht, so Meißner.

Bei Kaffee und Kuchen und endlich Sonnenschein nach wochenlangem Regensommer gab es noch Gelegenheit, ein paar Fragen zu stellen, Mailadressen auszutauschen und den informativen wie bewegten Tag im Schwarzwald ausklingen zu lassen.

AMSEL e.V. dankt dem Quellenhof und insbesondere den referierenden Mitarbeitern dort für ihren herausragenden Einsatz. Großer Dank geht auch an die Sponsoren Almirall, Genzyme, Merck, Novartis und Teva für ihre finanzielle Unterstützung.

Redaktion: AMSEL e.V., 20.06.2016