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Die Verbindung macht’s – auch im Beruf

Stabile Verbindungen sind eine wichtige Voraussetzung für ein glückliches Leben. Umso mehr, wenn die Lebensplanung schon in jungen Jahren durch die Diagnose Multiple Sklerose in Frage gestellt wird. Dass eine belastbare Verbindung gerade in der Arbeitswelt zu einer Win-Win-Situation bei Arbeitnehmer und Arbeitgeber führen kann, auch und trotz MS, zeigt das Beispiel von Jessica S.* und Franz G.*: Sie hat die Gewissheit eines sicheren Jobs, er behält seine qualifizierte und motivierte Mitarbeiterin. - Aus together #02.21.

Klarheit als Lebensprinzip

Jessica hat mit ihren 22 Jahren sehr genaue Vorstellungen von ihrem Leben. Als Kind hat sie durch die Trennung ihrer Eltern harte Zeiten erlebt. Ihre Mutter, die mit zwei kleinen Kin-dern plötzlich alleine dastand und trotzdem ihr Leben meisterte, wurde ihr zum Vorbild und zu ihrer esten Ratgeberin bei Sorgen und Nöten. Inzwischen fühlt sie sich in ihrer großen Patchworkfamilie sehr wohl, hat mehrere Halb- und Stiefgeschwister aus den neuen Verbindungen ihrer Eltern. Schon früh wollte die zielstrebige junge Frau einen kaufmännischen Beruf erlernen und hat letztes Jahr ihre Prüfung zur Im-mobilienkauffrau bestanden. Doch das Jahr 2020 stellte sie auch vor die bisher größte Herausforderung ihres Lebens: die Diagnose MS. Seit etwa fünf Jahren ist Jessica mit ihrem Freund zusammen. Die beiden planen, bald eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Familienplanung? Die kann noch etwas warten. Klar ist aber, dass Jessi, wie ihre Freunde sie nennen, auf jeden Fall Kinder haben möchte, MS hin oder her.

Drama – oder doch nicht?

Kurz vor dem Prüfungstermin letztes Jahr machte Jessicas linker Fuß plötzlich unkontrollierte „Schlenker“, sie hatte Schmerzen im linken Bein und Taubheitsgefühle im rechten Arm. Verspannungen durch das lange Sitzen und der Prüfungsstress waren die naheliegende Erklärung. „Ich wusste nicht, wie ich die schriftliche Prüfung schaffen sollte, wenn mir ständig der Stift aus der Hand fällt“, berichtet die ehrgeizige junge Frau. Aber sie wollte die Prüfung durchziehen und wurde von ihrem Chef darin bestärkt. Für Franz G. stand außer Frage, er würde seine exzellente Auszubildende nach der Prüfung übernehmen. Jessica hatte sich anfangs gesträubt, zum Arzt zu gehen. Ein Termin beim Facharzt war auf die Schnelle nicht zu bekommen. Doch ihr Arbeitgeber, dem die Symptome ebenso nicht entgingen, ließ nicht locker, schickte sie in die Notaufnahme des Klinikums. Noch in derselben Nacht wurden Liquordiagnostik und neurologische Untersuchungen vorgenommen, später die Bildgebung per MRT. Kurz darauf verkündete ihr der Chefarzt knapp die Diagnose „Verdacht auf MS“. Ohne weitere Aufklärung. Sie fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Die Reha, die sie kurz darauf antreten konnte, tat ihr sehr gut: Ihre Symptome bildeten sich rasch zurück und von den anderen Betroffenen bekam sie Informationen aus erster Hand, sah, wie andere mit der Krankheit umgehen und dass die Diagnose nicht den Weltuntergang bedeutet. Zur Medikation hatte Jessi eine klare Position: keine Spritzen. Deshalb verordnete ihr Neurologe ihr ein oral einzunehmendes Medikament, das sie bisher, bis auf den einen oder anderen Flush, gut verträgt. Und das sie seit November vor weiteren Schüben bewahrt hat.

Jessicas Credo. "Meine Verbindung zur MS? Ich bin Prio 1, nicht die MS. Solange es mir gutgeht, sollte es auch meiner MS gutgehen."

Der Job als Konstante

Sehr gut aufgehoben fühlt sich die 22-Jährige in ihrer Firma, in ihrem Team und auch bei ihrem Chef. An ihn wandte sie sich auch gleich nach ihrer Diagnose. Später fuhr er mit ihren Kolleginnen eigens zu ihr in die Reha, um ihr die Abschlussurkunde samt Blumenstrauß zu überreichen und ihren Erfolg zu feiern. Das ist sicher nicht selbstverständlich. Jessi schätzt die starke Verbindung, das familiäre Miteinander auch außerhalb der Bürozeiten, sehr. Sie will kein großes Tamtam um ihre Krankheit, keine übertriebene Rücksichtnahme und vor allem kein Mitleid. Für sie zählen Fakten. Und Fakt ist jetzt: „Ich bin zurück auf normal. Alles ist, wie es vorher war, auch im Job.“ Mittlerweile arbeitet die Kauffrau wieder Vollzeit, fühlt sich belastbar wie eh und je und spürt keine Einschränkungen durch die MS. Vielleicht hat ihr die Corona-Situation in die Hand gespielt: Das Geschäft ist weniger hektisch als sonst, Außentermine auf das Nötigste beschränkt. Das entlastet. Wie es nach Ende der Pandemie weitergeht und wie sich ihre MS entwickeln wird, wird sich zeigen. „Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist“, sagt die junge hübsche Frau pragmatisch, „jetzt lebe ich.“

Ein Chef mit Engagement und Herz

Franz G. hat mit seinen 58 Jahren im Leben vieles erreicht. Als Immobilien-kaufmann hat er sein eigenes erfolg-reiches Unternehmen in einer Stadt am nördlichen Rand des Schwarz-walds, er ist glücklicher Ehemann und Vater von drei erwachsenen Kindern. Was er sich sehnlich wünscht, sind Enkelkinder, aber da muss er sich wohl noch etwas gedulden. Seit sei-ner Zivildienstzeit, aus der er die Krankheit MS bereits kannte, liegen ihm soziales Engagement und Ehren-amt sehr am Herzen. Er engagiert sich vielfältig in Sport und Kultur, im Förderverein für Kinder und Jugendliche. Gesellschaftliche Verantwortung übernimmt der Unternehmer auch als ehrenamtlicher Prüfer der IHK. Mit Interesse begleitet er junge Auszubil-dende im eigenen Betrieb, verfolgt ihre Entwicklung vom Teenie zum ungen Erwachsenen und möchte sie fit machen für‘s Leben. Für Franz G. ist die Verantwortung für seine Angestellten eine Selbstverständlichkeit, weit über seine Fürsorgepflicht als Arbeitgeber hinaus. „Wir sind Menschen und arbeiten für Menschen“, so seine Devise. Er hat immer den Men-schen als Ganzes im Blick. Und dazu gehören auch private Aspekte, auch im Job. Großen Wert legt er auf ein respektvolles Miteinander und barrierefreie Kommunikation: Alle duzen sich, auch mit dem Chef. Alle achten aufeinander, unterstützen sich, wenn es mal nicht so gut läuft. Und alle fühlen sich wie in einer großen Familie.

Und plötzlich war alles anders – oder doch nicht?

Jessis Schicksal macht ihn persönlich sehr betroffen. Die Mehrarbeit durch Jessis Abwesenheit während ihrer Rehazeit setzte auch ihm gesundheitlich zu. 15-Stunden-Arbeitstage sind bei ihm sowieso keine Seltenheit. Darüber hinaus setzte er sich stark für Jessica ein, holte Informationen von verschiedensten Stellen ein: Agentur für Arbeit, Krankenkasse, Rehabilitationsträger, Integrationsamt. Er fühlte sich dort allerdings weniger gut aufgeklärt und beraten, mehr noch: im Stich gelassen. So kämpfte er unter anderem für eine längere Wiedereingliederungsphase für Jessi, die ihr nicht zugestanden wurde. Von der AMSEL bekam er schließlich umfassende Auskunft und Unterstützung bei Fragen zur Wiedereingliederung, zum Behindertenausweis, zur Rente oder zu Umbau- und deren Fördermöglichkeiten im Arbeitsumfeld.

Froh und dankbar ist Franz G., dass Jessi wieder voll einsatzfähig und begeistert bei der Arbeit ist. Sollten bauliche Maßnahmen erforderlich werden, wird er sie durchführen lassen, notfalls auch auf eigene Kosten. Sollte eine Umstellung auf Teilzeitarbeit nötig werden, wird er auch das zusammen mit dem Team stemmen. Alles in allem blickt der Unternehmer realistisch und entspannt in die Zukunft.

In Verbindung bleiben

„Gute Mitarbeiter wachsen nicht auf den Bäumen“, ist Franz G. überzeugt. Umso wichtiger sei die Verbundenheit mit ihnen auch in Krisenzeiten, denn sie schaffe Zukunft. Und die sei (fast) jeden Invest in menschlicher und ma-terieller Hinsicht wert. Das A und O auf beiden Seiten sei Offenheit, Realitätssinn, Pragmatismus. Sein Tipp für andere Arbeitgeber, die mit der Diagnose MS bei einem Mitarbeiter konfrontiert sind: „Seid mutig, nehmt es an, begleitet es! Es lohnt sich.“ Verbunden bleiben, nicht nur am Welt-MS-Tag.

* Die Namen der Personen wurden von der Redaktion geändert.

Redaktion: AMSEL e.V., 25.08.2021