Liebe Idefix,
das hast du schön geschrieben. Danke. Ich weiss, dass man leicht ausser Kontrolle gerät. Ich kriege es täglich mit in vielerlei Form.
Als ich ganz neu in der Abteilung war, hat sich eine junge Frau umgebracht. Jahrelange Depressionen, Selbstzweifel, Qual, Hochs und Tiefs. Der Suizid erfolgte kurz nach Neujahr, sie war bei ihrer Familie, man hatte den Eindruck es geht ihr richtig gut, sie freut sich wieder auf die Arbeit… und dann macht sie einfach Schluss.
Das hat mich damals tief beschäftigt, ein grosses WARUM, warum konnte ihr keiner helfen, warum ist sie verzweifelt, eigentlich hatte sie doch gar keinen Grund, war gesund, intelligent, hübsch, liebe Familie… was ist es, das so in ihrer Seele bohrt, dass sie diesen letzten Schritt gehen möchte und es letztendlich auch tat.
Und dann das junge Mädchen, jahrelang missbraucht und Mutter hat’s gewusst. Kaputte Psyche, Autoaggressionen, fürchterlich vernarbt durch Ritzen und Schneiden, nur Suizidgedanken im Kopf. Wie macht man so etwas wieder “heil”?
Chronische Schmerzpatienten, in tiefe Depression versunken “warum gerade ich”
MS-Patienten mit eiserner Härte gegen sich selbst, jeder Schub ein Versagen des Körpers oder ein persönlicher Angriff, dieses manifestierte ICH WILL DAS NICHT, dieses totale Ablehnen, Ignoranz, Selbstvergewaltigung indem man sich zu Dingen zwingt, die nur noch unter Qualen machbar sind, nur um zu sagen, ich hab die MS im Griff. Eine höflich hingestreckte grüssende Hand wird unhöflich abgelehnt oder gar weggeschlagen, weil derjenige einem ja nur zeigen will, wie gebrechlich man ist. Man braucht keine Hilfe. Und kommt gar nicht auf die Idee, dass der andere nur “Guten Tag” sagen wollte. Dann die Depression, mit Urgewalt stürzt sie auf ihn drauf. Oder schleicht sich ein. Oder ist eines Tages einfach da.
Und wenn dann einer kommt und so unüberlegt daherredet bzw. schreibt von wegen “wenn ich pflegebedürftig werde gehe ich” dann muss ich schon mal unbequem werden und fragen, ob er auch alles schon vorbereitet hat. Das ist dann einfach die Konsequenz. Ein Schock für den Suizidkandidat in spe, weil mit dieser hässlichen Mach-doch-Reaktion rechnet ja keiner. Und dann fängt man an zu reden. Konkretisiert den Hilferuf. Warum gerade dann, wenn du Hilfe brauchst beim Hintern wischen? Warum nicht schon als Rollifahrer? Warum nicht gleich? Wer entscheidet wann über lebenswert oder lebensunwert? Würdest du diesen gewählten Zeitpunkt als deine persönliche Wertung beschreiben? Was würdest du einem MS-Kranken mit Frisch-Diagnose raten, der sich sofort umbringen möchte weil sein Leben nicht mehr lebenswert ist? Wie kommst du darauf, dass deine persönliche Wertung allgemein gültig ist? Hat er nicht dasselbe Recht wie du auf persönliche Wertung seines Lebens? Lass uns zusammenfassen: Rollifahren und gewisse Behinderungen (die wir speziell und genau auflisten) gehen noch, aber Hintern wischen nicht…
Idefix, ich wünsche dir alles Gute und behalt die Kontrolle. Wenn dein Umfeld dir signalisiert du wirst geliebt und gebraucht glaub es einfach. Vermutlich stimmt’s 
Oder was würdest du denn deinem erkrankten Mann Bruder Schwester Freund etc sagen:
“du bist nicht mehr so wie früher, du nervst mit deiner Langsamkeit, dein Geplärre geht mir auf den Keks, du bist ein Wrack, zu nichts mehr zu gebrauchen, verschwinde aus meinem Leben!”
Schluck… nee, würd doch nie einer sagen!! Ausser zu sich selbst.
In diesem Sinne - Kopf hoch!
süsser Gruss von
sauer